Eine Stunde Fußweg liegt zwischen Naumburg und Pforta, einer ehemaligen Zisterzienserabtei, die seit 1543 als königliche Landesschule Pforta ausgewählte Schüler auf den Gelehrtenstand vorbereitet hatte. Sechs Jahre, von Oktober 1858 bis September 1864, ist Friedrich Nietzsche Schüler dieses Internat, das unter den höheren Schulen Deutschlands zu Nietzsches Zeit als erste Stätte wissenschaftlich fundierter und humanistischer Bildung galt. Das Programm der Schule war an dem Humboldtschen Erziehungsideal einer ganzheitlichen Charakterbildung aus dem Geiste der Antike ausgerichtet. Hervorragende Pädagogen (im wahren Sinne des Wortes) sollten die Schüler in einem durchaus freundschaftlichen Mentorensinne "zum Gehorsam gegen das Gesetz und den Willen der Vorgesetzten, an Strenge und pünktliche Pflichterfüllung, an Selbstbeherrschung, an ernstes Arbeiten, an frische Selbsttätigkeit aus eigener Wahl und Liebe zur Sache, an Gründlichkeit und Methode in den Studien, an Regel in der Zeiteinteilung, an sicheren Takt und selbstbewußte Festigkeit im Umgang mit ihresgleichen gewöhnt werden (...)", wie es in einer Festschrift aus dem Jahr 1843 heißt. Einen herausragenden Stellenwert in Pforta hat die profunde Ausbildung in den alten Sprachen und die musische Erziehung. Der streng geregelte Stundenplan, zu dem gemeinsame Mahlzeiten, frühmorgentliches und abendliches Gebet, Schulgartenfreizeit und Sport (insbesondere das von Nietzsche zu seiner Jugendzeit sehr geschätzte Schwimmen) gehörten, sicherte ein Maximum an Disziplin und Konzentration. Jeder Schüler hatte zugleich einen Lehrer als Mentor, der sich um seinen Zögling verständig und väterlich kümmerte. Sowohl sein erster Tutor Professor Buddensieg, der zu Nietzsches Leid bereits 1861 stirbt, als auch der zweite Tutor, Dr. Max Heinze, sind wichtig für die emotionale Entwicklung Nietzsches. Dr. Max Heinze wird 1900 beim Begräbnis seines Schülers anwesend sein. Einmal in der Woche ist der sogenannte 'Studien- oder Ausschlaftag', an dem die Schüler selbstständig ihr Freizeit gestalten können. Zusammengefasst: bei Pforta kann man tatsächlich von einer 'Gelehrtenrepublik' sprechen, in der die Schüler angeregt, gefordert, unterstützt und auf künftige Aufgaben vorbereitet wurden. Neben seinen literarischen und musikalischen Interessen, die Nietzsche schon seit Naumburg beschäftigten, kommt in Pforta ein Einfluß hinzu, der seine weitere geistige und schließlich auch berufliche Entwicklung maßgeblich prägen wird: die Entdeckung der Antike im Rahmen des Griechisch- und Lateinunterrichts. Nietzsche lernt die alten Sprachen aber nicht in einem pedantischen Sinne kennen, sondern die Ideale der Antike bilden den Rahmen seines Lebens in Pforta. Erkenntnis muß, so ist für Nietzsche selbstverständlich, ins Leben greifen und fruchtbar für das eigene Leben sein. Nietzsche ist insgesamt ein guter Schüler, einzig in Mathematik zählt er nicht zu den Besten, was ihm bei seiner Abschlußprüfung 1864 fast zum Verhängnis wird. Die Fürsprache des Nietzsche gewogenen Lehrers an die Adresse des Mathematiklehrer Buchbinder räumt die letzte Hürde weg: "Wünschen Sie vielleicht, daß wir den begabtesten Schüler, den Pforta, so lang ich hier bin, gehabt hat, durchfallen lassen?" Obwohl Naumburg nicht weit von Pforta entfernt liegt, hat Nietzsche beim Eintritt in das Internat großes Heimweh. Er findet keine Freunde und freut sich einzig auf die Feiertage und Ferien, wenn er seine Familie und seine Naumburger Freunde Wilhelm Binder und Gustav Krug treffen kann. Gerade die beiden Freunde sind für die geistige Entwicklung Nietzsches während der Anfangszeit in Pforta entscheidend. Die Angst der Mutter, Friedrich sei isoliert in Pforta, beruhigt Friedrich jedoch mit einem Photogeschenk an die Mutter, welches Nietzsche mit einem Schulkameraden zeigt und welches er noch mit einem lustigen Gedicht kommentiert. Im Herbst 1859 schließlich lernt Nietzsche den Pastorensohn Paul Deussen kennen, kurze Zeit später auch Carl von Gersdorff. Mit Deussen beginnt die Freundschaft, weil beide eine Vorliebe für den griechischen Dichter Anekreon teilen. Mit ihm wird Nietzsche 1861 konfirmiert. Gersdorff und Nietzsche werden Freunde über die Liebe zur Musik. Nietzsche hat in Pforta die Gelegenheit, Klavier zu spielen, er singt seit August 1859 im Chor und komponiert. Die Freundschaft mit dem künstlerisch begabten, jedoch den Lehrern gegenüber aufsässigen Guido Meyer endet 1863 mit der Relegation seines Freundes. Nietzsche nennt diesen Tag den Traurigsten, den er in Pforta verlebt hat. Auch Nietzsche hat eine kurze renitente Pubertätsphase. Überliefert ist, daß Friedrich Nietzsches im April 1863 mit dem genannten Guido Mayer von der Bahnhofsgaststätte in Bad Kösen betrunken nach Pforta zurückkehrten. Eine Karzerstrafe in Folge spöttischer Formulierungen in einem Aufsichtsprotokoll ist zudem aktenkundig. Genau an dieser Stelle muß Ernst Ortlepp wenigstens erwähnt werden. Nietzsche kannte dieses verkrachte Genie, das Goethe getroffen und in Leipzig einst mit Richard Wagner Umgang hatte, nun jedoch wie ein Bohemien in der Umgegend Naumburgs lebte. Vermutlich machte er großen Eindruck auf die Mehrzahl der Internatsschüler. Gewiss hatte man sich in den Ausflugslokalen um Naumburg kennen gelernt, in denen Ortlepp eigene Gedichte zum Besten gab und gewiss bewunderten ihn die pubertierenden Schüler ob seiner freien und unkonventionellen Lebensart. In diese Phase fällt auch die einzige überlieferte Bekanntschaft mit einem Mädchen. Nietzsche schenkt Anna Redtel im September 1863 einen Band mit eigenen Kompositionen. Sie ist die Schwester eines Mitschülers im nahegelegenen Bad Kösen, wo sie im elterlichen Haus zusammen musizieren. Noch aus Bonn läßt er sie durch seine Schwester grüßen. Hier auch, anscheinend wie in allen Beziehungen, die Friedrich Nietzsche eingegangen ist, und noch eingehen wird, zeigt sich der Wille, sich durch den Anderen geistig oder künstlerisch weiter zu entwickeln. Nietzsches Freundschaften basieren immer auf einem zielstrebig verfolgten Nutzen. Die Zeit in Pforta ist neben dem Schulstoff, den Nietzsche anscheinend ohne viel Aufwand bewältigt, angefüllt mit Lektüre, die mehr den eigenen Interessen folgt. Er führt gleichsam ein geistiges, musisches Leben nebenher. Die Liste der Autoren, die Nietzsche in Pforta liest, ist unüberschaubar. Zu allen Festtagen läßt sich Nietzsche Bücher schenken, die Briefe an die Mutter sind voll mit Buchwünschen, in den Briefen an Freunde werden ständig neue Entdeckungen erwähnt oder emphatisch empfohlen. Nietzsche legt in Pforta die Basis für sein umfangreiches literarisches Wissen, besonders der Klassiker. Nicht nur die antike Literatur und hier besonders Platon und Sallust, sondern auch Shakespeare, Byron, Petöfi, Jean Paul, Kleist, Rousseau, Puschkin liest Nietzsche. Dabei ist die Lektüre immer zugleich Anregung für das eigene Schaffen - Nietzsche ahmt nach und gewinnt nach und nach, wie es die antike Rhetorik lehrt, den eigenen Stil. So lernt Nietzsche die philologische Technik im Rahmen des Griechisch- und Lateinischunterricht und legt seine hier erworbenen Maßstäbe an Literatur überhaupt an.Ein Zeugnis für seinen außergewöhnlichen Geschmack ist sein Urteil über seinen Lieblingsdichter Hölderlin (der zu Nietzsches Schülerzeit noch nicht zum Kanon großer deutscher Literatur gezählt wurde), den er 1861 entdeckt und über den er in einem Schulaufsatz emphatisch schreibt. Nietzsche, der sonst Bester im deutschen Aufsatz ist, erhält von seinem Lehrer nur eine gute Note und dazu die Bemerkung: "Ich möchte dem Verfasser doch den freundlichen Rat erteilen, sich an einem gesünderen, klareren, deutscheren Dichter zu halten." Nietzsche ist in seiner Urteilskraft zu diesem Zeitpunkt seiner Umgebung schon weit überlegen. Zeugnisse seines geistigen Fortschritts und Winke seiner philosophischen Begabung sind die 1862 für die 'Germania' verfassten Schriften 'Fatum und Geschichte' und 'Willensfreiheit und Fatum'. Diese Nietzsche-Frühschriften finden Sie hervorrragend kommentiert auf unserer Partnerseite. Fast alle Themen werden hier von dem Siebzehnjährigen schon angesprochen, hier sind die ersten Spuren seines unzeitgemäßen Denkens: die Diesseitigkeit des Nietzscheanischen Denkens, in dem der Mensch stets die Mitte ist. Hier schon greift er das Christentum an und kommt auf den Atheismus zu sprechen. Er spricht die Relativität der Moral an, vorgebildet ist die Philosophie des Werdens und der Unschuld des Werdens, vorgebildet der Gedanke, daß der Mensch etwas sei, das untergeht und zu überwinden ist (diesen Gedanke sucht Nietzsche vermittelt über den Ermanarichstoff aus dem germanischen Sagenkreis der Edda über vier Jahre künstlerisch zu gestalten). Der Gedanke der ewigen Wiederkehr und des Philosophen und Historikers als Propheten und Gesetzgebers, der die Weltvergangenheit umstürzt, ist hier vorgebildet. Vorgebildet ist hier schon die Kritik des Bewußtseins und des Geistes und die Problematik des Individuums in Gesellschaft und Geschichte. Klar ausgedrückt ist auch schon der Haß auf die Idee von der Gleichheit der Menschen. Gerade der letzte Gedanke findet sich zwei Jahre später wieder, wenn Friedrich Nietzsche als Thema seiner philologischen Abschlußarbeit den Aristokraten und Dichter Theognis von Megara behandelt. Ein für das weitere Leben wichtiges Phänomen zeigt sich in Pforta schon in nuce: die gefährdete körperliche Konstitution Nietzsches. In allen Internatsjahren gibt es Eintragungen in das Krankenbuch - am Häufigsten ist ein unerträglicher Kopfschmerz genannt, der, folgt man den Briefen, Nietzsche sein ganze Leben quälen wird. Als Therapie wirkt einzig Einsamkeit und Spazierengehen. Der neunzehnjährige Friedrich Nietzsche ist sich nach der Zeit in Pforta, trotz aller Neigung zur Kunst, bewußt, daß seine erste Begabung in der Philologie liegt: "Erst in der letzten Zeit meines Pförtner Lebens gab ich, in richtiger Selbsterkenntnis, alle künstlerischen Lebenspläne auf; in die so entstandene Lücke trat von jetzt ab die Philologie". Nietzsche wird sich später stets positiv über seine Zeit in Pforta äußern und seinen Lehrern gerade für die Vermittlung des wissenschaftlichen Ernstes und der präzisen Methode danken und sich an die anregende Atmosphäre in Pforta erinnern. Nietzsche, der Komet am Philologenhimmel, verdankt vor allem seine nie versiegende Liebe zur Antike dem Internat Pforta. Der radikale Umwerter aller Werte ist paradoxerweise nicht denkbar ohne die strenge, traditionelle Erziehung in Pforta. Nietzsche wußte das, wenn er rückblickend schreibt: "Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, das heißt in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehen. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird, daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird (...)". |