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Siechthum

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... als ob Einem jeder Satz zugerufen wäre... Rapallo

Nietzsche dichtet den ersten Teil des 'Zarathustra' Ende Januar 1883 in Rapallo innerhalb weniger Tage. In einem Brief an Köselitz schreibt er: "Seine Entstehung Rapallowar eine Art Aderlaß, ich verdanke ihm, daß ich nicht erstickt bin. Es war etwas Plötzliches, die Sache von 10 Tagen." Kurz zuvor hatte er noch vom schlechtesten Winter seines Lebens gesprochen, nun schreibt er ein Werk, dessen Bedeutung ihm selbst sofort klar ist: "Aber es ist mein Bestes, und ich habe einen schweren Stein mir damit von der Seele gewälzt. Mit diesem Buche bin ich in einen neuen 'Ring' eingetreten (...)." Seinem Verleger kündigt Nietzsche sein Werk schon im Februar 1883 mit folgenden Worten an: "Es ist eine 'Dichtung' oder ein fünftes 'Evangelium' oder irgend Etwas, für das es noch keinen Namen giebt: bei weitem das Ernsteste und auch Heiterste meiner Erzeugnisse, und jedermann zugänglich."Tasso sagt bei Goethe: "Wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide". Nietzsche dagegen schafft mit dem Werke 'Also sprach Zarathustra' sich selber den einzigen noch offenstehenden Fluchtweg aus einer ausweglosen inneren Verfassung. Im 'Zarathustra' formuliert Nietzsche in wenigen Worten das Motto, das über den ganzen letzten Lebensjahren Nietzsches stehen könnte: "Was liegt am Glücke! antwortete er [Zarathustra], ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke." Eine ähnliche Euphorie wie 1881 in Sils Maria versetzt Nietzsche gleichsam in einen Schaffensrausch voller Inspiration. Zunächst scheint er aber diesen Aufschwung mit einem tiefen depressiven und gesundheitlichen Sturz zu bezahlen: "Es ist wieder Nacht um ich; mir ist zu Muthe, als hätte es geblitzt - ich war eine kurze Spanne Zeit ganz in meinem Elemente und in meinem Lichte. Und nun ist es vorbei. Ich glaube, ich gehe unfehlbar zu Grunde (...)." Im Verlauf des Frühjahres erholt sich Nietzsche nur leicht - in fast allen Briefen berichtet er von seinem schlechten Zustand. Trotzdem oder gerade deswegen forciert er die Veröffentlichung des ersten Teils des 'Zarathustra'.

So sehr dieses Werk seine Niederschrift offenbar einer Inspiration verdankt, die wesentlichen Gedanken dieses Buches reichen weit zurück, und einzelne Überlegungen finden sich bereits in der 'Geburt der Tragödie'.Brief an Peter GastDas zeigen seine Notizen und Aufzeichnungen. In den Briefen ist jedoch von einem geplanten neuen Werk nicht die Rede. Dies beglaubigt, daß der 'Zarathustra' tatsächlich wie im Rausch geschrieben wurde. Ob auch Rauschmittel ihren Anteil an der Entstehung dieses Werk haben, wer weiß? Bekannt ist, daß Nietzsche in diesem Winter unter so schlimmen Schmerzanfällen litt, daß er auch Narkotika einnahm und sich selber als Dr. Nietzsche Rezepte für Medikamente ausstellte, deren schmerzlindernde Wirkung auch bewusstseinsverändernde Zustände nachfolgen konnten. Am 26. August 1881 notierte sich Nietzsche in Sils Maria im Zusammenhang mit einem geplanten Werk 'Mittag und Ewigkeit' erstmals den Namen 'Zarathustra'. Die Umrisse der Figur Zarathustra treten erstmals im letzten Aphorismus der ersten Ausgabe der 'Fröhlichen Wissenschaft' (1882) ans Licht. Diesen Aphorismus übernimmt Nietzsche in die Vorrede des ersten Teils von 'Also sprach Zarathustra'. Nietzsche selbst schreibt später über den gedanklichen Rahmen, in dem man seinen 'Zarathustra' lesen soll: "Beim Durchlesen von 'Morgenröthe' und 'Fröhlicher Wissenschaft' fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung u. Kommentar zu genanntem Zarathustra dienen kann. Es ist eine Tatsache, daß ich den Kommentar vor dem Text gemacht habe." Neben Elementen, die auf eine geistige Kontinuität hindeuten, entdeckt Nietzsche seinen Lesern in diesem neuen Werk doch völlig neue Zugänge zu seinem Denken.

Nietzsche weiß um die negativen Konsequenzen für seinen ohnehin beschädigten Ruf, die eine Veröffentlichung dieses kleinen Buches von hundert Druckseiten mit sich bringt. So formuliert er bereits kurz nach der Abfassung Richard Wagnerspöttisch " (...) - von jetzt an werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet werden. Es ist eine wunderliche Art von 'Moral-Predigten'." Mit seinem Erstling 'Die Geburt der Tragödie...' hatte er einst sein wissenschaftliches Renommee eingebüßt, mit seinem Werk 'Menschliches - Allzumenschliches' hatte der Freigeist den Bruch mit Wagner sanktioniert, nun wird er mit seinem 'Zarathustra' eine weitere und noch radikalere Distanzierung in die Tat umsetzen. Seinem Werk 'Zarathustra' fügt er schon im ersten brieflich genannten Titelentwurf die programmatische Widmung 'Ein Buch für Alle und Keinen' bei. Nietzsche spricht die Sprache eines Propheten, eines Dichters - das Werk lebt aus Anspielungen auf christliche Formulierungen. In Gleichnissen, orakelnden Reden und symbolischen Figuren offenbart sich eine neue antichristliche Heilslehre. Die sogenannten Dionysos - Dithyramben legen schließlich die gedankliche Basis der neuen radikal lebensbejahenden Lehre frei.

An Malwida von Meysenbug schreibt Nietzsche am 4. April 1883 spöttisch über seine grundlegende Motivation: "Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache hat einen: ich bin-----der Antichrist. Verlernen wir doch das Lachen nicht!" Nietzsche löst sich also in diesem Werk erstmals von der essayistischen und aphoristischen Form - in einem Brief vom 1. April 1883 befragt er sich selbst über die neue Form: "Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser 'Zarathustra'? Ich glaube beinahe, unter die 'Symphonien'. Gewiß ist, daß ich damit in eine andere Welt hinübergetreten bin - der Freigeist ist erfüllt. Oder?" Der gleichsam symphonische Stil ist also das zwangsläufige Ergebnis einer Neuausrichtung. Schon die Gedichtsammlung 'Idyllen aus Messina' zeigen, daß Nietzsche eine neue wirkungsvollere Ausdrucksform für seine Gedanken sucht. Der Psychologe, der die Welt begrifflich fixieren will, wird durch den Dichter abgelöst, der seine Anschauungen gleichsam in archaische Sprache hüllen muß. Gleichzeitig beginnt mit dem 'Zarathustra' Nietzsches Selbstapotheose - gleichsam neugeboren kehrt Nietzsche aus der totalen Einsamkeit, aus der Todesnähe zur Welt, zu den Menschen zurück - als ein Verwandelter.

Bedeutsam ist dieses Werk nicht nur in seiner Fülle an denkwürdigen Überlegungen, sondern als ein herausragendes Werk der deutsche Sprache. Niemand muß Nietzsche als Denker schätzen - dem Zauber seiner in den Bann ziehenden Sprache kann man sich nur schlecht entziehen. Valery schreibt an irgendeiner Stelle in seinen 'Cahiers', daß Nietzsche kein Nahrungsmittel, sondern ein Rauschmittel ist. Wer's nicht erfühlt, der wird es nicht erjagen. Nietzsche war sich der schriftstellerischen Bedeutung seines Zarathustra durchaus bewußt. An seinen Freund Erwin Rohde sagt er in einem Brief im Februar 1884 ohne falsche Bescheidenheit: "(...) - ich bilde mir ein, mit diesem Z. die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther und Goethe noch ein dritter Schritt zu tun -; sieh zu, alter Herzens-Kamerad, ob Kraft, Geschmeidigkeit und Wohllaut je schon in unserer Sprache so beieinander gewesen sind."

In einem völligen Mißverhältnis Sils-Maria 1889zum Anspruch und zum stilistischen Rang dieses Buches steht der publizistische Erfolg. Nietzsche macht erneut die Erfahrung, daß der Prophet nichts im eigenen Land gilt. Hinzu kommt, daß Nietzsches Verleger Schmeitzner offensichtlich das Buch nicht so fördert, daß sich ein Erfolg überhaupt einstellen könnte. Nietzsche wird mit diesem Verleger noch aufreibende finanzielle und rechtliche Konflikte austragen - insbesondere die Schwierigkeiten um den Rückkauf der eigenen Werke werden Nietzsche in den verbleibenden Jahren krank machen. Den vierten Teil des Zarathustra (den nur einige Freunde und Förderer Nietzsches erhielten und der erst nach seiner Umnachtung allgemein zugänglich wurde) und danach alle weiteren Werke läßt Nietzsche privat drucken. 'Also sprach Zarathustra' besteht in seiner heutigen Form aus vier Teilen, wobei Nietzsche zunächst isoliert voneinander zwischen 1883 und 1884 die ersten drei Teile veröffentlichte. Abwechselnd entstehen die drei Teile im Oberengadin (Teil II: Juni, Juli 1883 in Sils) oder am Mittelmeer (Teil III: Januar, Februar 1884 in Nizza) - im 'Zarathustra' hat Nietzsche sowohl der Hochgebirgseinsamkeit um Sils als auch der mediterranen Landschaft um Rapallo ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt. Das Werk endet mit der Vision des großen Mittag - azurner wolkenloser Himmel - für Nietzsche ist diese klimatische Bedingung die Metapher für Gesundheit schlechthin. Es bringt um alles, wenn man dieses Werk auf die zwei Hauptgedanken 'Übermensch' und 'Ewige Wiederkehr' reduziert - das verfehlt die Wahrheit dieses Buches, das, wie Nietzsche häufig schreibt, den langsamen sorgfältigen Leser will. Alles feuilletonistische Geschwafel verbietet sich - lesen Sie doch die Vorrede von 'Also sprach Zarathustra' oder nur einmal das Nachtlied:

Das Nachtlied
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.
Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe.
Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht umgürtet bin.
Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen!
Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! - und selig sein ob eurer Licht-Geschenke.
Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.
Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als Nehmen.
Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich wartende Augen sehe und die erhellten Nächte der Sehnsucht.
Oh Unseligkeit aller Schenkenden! Oh Verfinsterung meiner Sonne! Oh Begierde nach Begehren! Oh Heisshunger in der Sättigung!
Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele? Eine Kluft ist zwischen Geben und Nehmen; und die kleinste Kluft ist am letzten zu überbrücken.
Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehethun möchte ich Denen, welchen ich leuchte, berauben möchte ich meine Beschenkten: - also hungere ich nach Bosheit.
Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die Hand entgegenstreckt; dem Wasserfalle gleich zögernd, der noch im Sturze zögert: - also hungere ich nach Bosheit.
Solche Rache sinnt meine Fülle aus; solche Tücke quillt aus meiner Einsamkeit.
Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem Überflusse!
Wer immer schenkt, dessen Gefahr ist, dass er die Scham verliere; wer immer austheilt, dessen Hand und Herz hat Schwielen vor lauter Austheilen.
Mein Auge quillt nicht mehr über vor der Scham der Bittenden; meine Hand wurde zu hart für das Zittern gefüllter Hände.
Wohin kam die Thräne meinem Auge und der Flaum meinem Herzen? Oh Einsamkeit aller Schenkenden! Oh Schweigsamkeit aller Leuchtenden!
Viel Sonnen kreisen im öden Räume: zu Allem, was dunkel ist, reden sie mit ihrem Lichte, - mir schweigen sie.
Oh diess ist die Feindschaft des Lichts gegen Leuchtendes, erbarmungslos wandelt es seine Bahnen.
Unbillig gegen Leuchtendes im tiefsten Herzen: kalt gegen Sonnen, - also wandelt jede Sonne.
Einem Sturme gleich fliegen die Sonnen ihre Bahnen, das ist ihr Wandeln. Ihrem unerbittlichen Willen folgen sie, das ist ihre Kälte.
Oh, ihr erst seid es, ihr Dunklen, ihr Nächtigen, die ihr Wärme schafft aus Leuchtendem! Oh, ihr erst trinkt euch Milch und Labsal aus des Lichtes Eutern!
Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem! Ach, Durst ist in mir, der schmachtet nach eurem Durste!
Nacht ist es: ach dass ich Licht sein muss! Und Durst nach Nächtigem! Und Einsamkeit!
Nacht ist es: nun bricht wie ein Born aus mir mein Verlangen, - nach Rede verlangt mich.
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. -
Also sang Zarathustra.

Nietzsche beginnt sein Projekt der 'Umwertung aller Werte' mit dem Zarathustra - seit diesem Werk weiß Nietzsche, daß es kein Zurück mehr gibt. Nach und nach wird er gleichsam alle Brücken Also sprach Zarathustrahinter sich abbrechen. Und stolz, enttäuscht und belustigt wahrnehmen, wie sein Werk aufgenommen wird. Nietzsche berichtet in einem Brief an Köselitz im Sommer 1884 von einem Gespräch mit dem verehrten Jacob Burckhardt: "Das Spaaßhafteste, was ich erlebte war J[acob] Burckhardts Verlegenheit, mir etwas über den Zarathustra sagen zu müssen: er brachte nichts Anderes heraus als 'ob ich es nicht einmal mit dem Drama versuchen wolle.'" Auch Gottfried Keller, dem bewunderten Autoren aus Zürich, läßt Nietzsche seinen Zarathustra zusenden. Schließlich kommt es sogar im September 1884 anläßlich eines Zürichaufenthalts zu einem Treffen mit Keller. Robert Freund, ein Bekannter beider Schriftsteller berichtet folgendes über das Treffen: "Nachdem der Besuch stattgefunden, ging ich am Nachmittag mit Nietzsche spazieren und frug ihn, wie es bei Keller gewesen sei. Es sei sehr nett gewesen, antwortete Nietzsche, nur entsetzte ihn das entsetzliche (sic!) Deutsch, das Keller spreche und die mühsame Art, mit der sich der große Schriftsteller mündlich ausdrücke. Am nächsten Sonntag frug ich dann Keller, ob Herr Nietzsche ihn besucht habe. Keller bejahte und setzte hinzu: 'ich glaube, dä Kerl ischt verruckt.'" Ein anderer einstmals bewunderter Mensch kann kein Urteil mehr über Nietzsches geistige Entwicklung abgeben: Richard Wagner. Am 13. Februar 1883, knapp zwei Wochen nach der Fertigstellung des ersten Teils von 'Also sprach Zarathustra' stirbt der Komponist in Venedig. Nietzsche erfährt nur durch einen Zufall davon - und schreibt an Overbeck: "Wagner war bei weitem der vollste Mensch, den ich kennen lernte, und in diesem Sinne habe ich seit sechs Jahren eine große Entbehrung gelitten. Aber es giebt etwas zwischen uns Beiden wie eine tödliche Beleidigung; und es hätte furchtbar kommen können, wenn er noch länger gelebt haben würde." Die "tödliche Verletzung" meint das von Richard Wagner vermutlich in Umlauf gesetzte Gerücht, daß Nietzsches Krankheit in sexuellen Verfehlungen (Päderastie, Onanie) ihren Grund habe. Das verletzte den Stolz Nietzsches deswegen so sehr, weil ihn dieser geschmacklose Vorwurf für immer vor der geliebten Cosima Wagner beschämen würde. Bei Nietzsche, so zeigt sich später, wird sich die Wunde Wagner nicht schließen - das letzte Werk, an dem Nietzsche vor seinem geistigen Zusammenbruch Januar 1889 arbeitet, ist 'Nietzsche contra Wagner'. Cosima Wagner wird er in einem der sogenannten Wahnsinnszettel "Prinzeß Ariadne, meine Geliebte" nennen.

Brief an Cosima Wagner


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