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Pathos der Distanz - Sils Maria

Nietzsche verbringt 1885 den vierten Sommer in Sils Maria. Es hatten sich für Haus Durischden schreibenden und reisenden Privatier Nietzsche inzwischen Gewohnheiten herausgebildet, die seiner Gesundheit zuträglich waren. Er kennt nun die Orte und klimatischen Bedingungen, die ihn schützen und das Denken ermöglichen - von wenigen Ausnahmen und Projekten (z.B. Vallombrosa bei Florenz oder etwa Korsika) abgesehen, bleibt er in seinen letzten Jahren Sils Maria und Nizza treu. An Köselitz schreibt er: "Meine Gesellschaft vom vorigen Sommer ist auch wieder da, und mir zugethaner als je, die beiden Engländerinnen, welche mir den Genuß distinguierter Lebensformen geben..." Nietzsche findet mit Frau Röder Wiederholt aus Zürich sogar eine Schreibhilfe, der er in Abwesenheit des helfenden Freundes Köselitz, täglich mehrere Stunden diktieren kann. Nietzsche arbeitet Nizza - Strandpromenadean einer zweiten Auflage von 'Menschliches -Allzumenschliches', daneben diktiert er ihr erste Aphorismen, die in das kommende Werk 'Jenseits von Gut und Böse' eingehen werden. So sehr sich diese Schreibhilfe bemüht, abschließend urteilt er über sie: "Frau Röder...passt mir nicht, ich wünsche keine Wiederholung. (...) Sie ist haltlos; die Frauen begreifen allesammt nicht, daß ein persönliches Malheur kein Argument ist, am wenigsten aber die Grundlage zu einer philosophischen Gesammtbetrachtung aller Dinge abgeben kann. Das Schlimmste aber ist: sie hat keine Manieren, und schaukelt mit den Beinen." Dem äußeren Verhalten nach, scheint Friedrich Nietzsche eine Art von provisorischer Heimat in Sils Maria und seinem Gästekreis gefunden zu haben, im Inneren dagegen macht sich zunehmend eine radikale Distanz zu seiner Umgebung bemerkbar. Er trägt zwar die Maske eines heiteren Menschen, während er sich doch als Fremdling fühlt. Nietzsche selbst findet dafür den Begiff "Pathos der Distanz". In einem Brief an Overbeck vom 25. März 1886 aus Nizza faßt er dieses Gefühl zusammen: "Man sagt mir hier, daß ich den ganzen Winter, trotz vielfacher Beschwerniß immer 'bei glänzender Laune' gewesen sei; ich selber sage mir, daß ich den ganzen Winter profondament triste, torturirt von meinen Problemen bei Tag und Nacht, eigentlich noch mehr höllenmäßig als höhlenmäßig gelebt habe (...) Das große Missverständnis der Heiterkeit! (...)"

Nicht von ungefähr formuliert Nietzsche in den Silser Tagen in einem Brief an Köselitz Überlegungen zum Thema: Was ist vornehm?, in der das "Pathos der Distanz" an zentraler Stelle steht: "Vornehm ist z.B. der festgehaltene frivole Anschein, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung maskiert wird. (...) Vornehm ist der Zweifel an der Mittheilbarkeit des Herzens; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben. Die Überzeugung (...), daß man fast immer verkleidet lebt, gleichsam incognito reist, - um viel Scham zu ersparen; (...)" Nietzsche skizziert mit hier wenigen Strichen sein eigenes Wesen.

Neben der scheinbaren Heiterkeit und Höflichkeit, die Nietzsche in Sils Maria und später auch in der Gesellschaft in Nizza an den Tag legt, einer intensiven wissenschaftlichen Lektüre und der Arbeit an einer Zweitauflage von Buchhändlerbörse in Leipzig'Menschliches-Allzumenschliches', muß sich Nietzsche zunehmend Sorgen um die Zukunft seines bisher erschienenen Werkes machen. Der Schmeitznerische Verlag trieb dem Konkurs entgegen. Nietzsche muß nun auch noch um die Bestand seiner schon erschienenen Bücher und um nicht erfüllte finanzielle Forderungen kämpfen. Er wirft zudem seinem Verleger vor, daß er sich nicht ausreichend um die Verbreitung seines Werkes gekümmert habe. Tatsächlich liegt z.B. mehr als die Hälfte von 'Menschliches - Allzumenschliches' im Lager. Nietzsche muß den Eindruck haben, daß alle Arbeiten zuletzt umsonst gewesen sind - der publizistische Erfolg und eine wirkliche Wirkung seines Werkes ist bis zu diesem Zeitpunkt nahezu ausgeblieben. Im Spätsommer 1885 reist Nietzsche zu Unterhandlungen mit Verlegern nach Leipzig, um auch formell mit dieser Phase abzuschließen. Die Verhandlungen über die Bücher werden sich jedoch in die Länge ziehen - erst ein Jahr später gelingt es dem Leipziger Verleger Fritzsch, dem Nietzsche Vollmacht erteilt hatte, nach langwierigen Verhandlungen Nietzsches Werke aus dem Verlag Schmeitzner heraus zu kaufen. Am 25. August 1886 schreibt Nietzsche an Overbeck: "Eben telegraphiert mir Fritzsch aus Leipzig 'Endlich im Besitz!' - Worte, die mir große Freude machen. Ein verhängnißvolles Versehn aus meiner Basler Zeit (etwas 'zu viel Vertrauen', wie so oft in meinem Leben) ist damit nun ad acta gelegt."

Nietzsche lernt in den wenigen Jahren, die ihm bis zu seiner Umnachtung bleiben, noch viele Menschen kennen, doch wirkliche Bindungen kommen nicht mehr zustande - Er Resa Schirnhoferpflegt zwar in seinem intensiven Briefwechsel die noch übrig gebliebenen Freundschaften. Seine Bekanntschaften haben ansonsten häufig nur noch episodischen Charakter. Es tauchen junge Bewunderer wie die junge Adelige Resa von Schirnhofer und Paul Lanzky auf (der später ein Werk mit dem sehr originellen Titel 'Abendröthe' schreibt. Nietzsche muß auch diese missverständliche Anbiederung ertragen), mit denen er als philosophischer Lehrer eine kurze Zeit an den verschiedenen Aufenthaltsorten verbringt; er lernt Gäste kennen, mit denen er Spaziergänge macht, Musik hört oder anregende Gespräche führt. Nietzsche kapselt sich zunehmend ab, denn zuletzt trachtet er nur noch nach dem eigenen Werke - seiner zukünftigen Philosophie! So berühren ihn verstorbene Autoren wie Dostojewski, dessen Werke er zufällig entdeckt und sofort schätzt und schließlich die fernen Stimmen eines Hippolyte Taine und Georg Brandes mehr als jeder Mensch, der in seiner Nähe ist. Beide Denker schätzen Nietzsches Philosophie und bringen das brieflich zum Ausdruck.

Als der wichtigste Studienfreund Erwin Rohde sich abwertend über Taine (und damit über Nietzsches Philosophie) äußert, kündigt ihm Nietzsche 1887 die Freundschaft. In einem Brief, förmlich eine Abmahnung, schreibt Nietzsche am 19. Mai 1887 in einem ungewohnt aggressiven Ton: "Nein, mein alter Freund Rohde, ich erlaube Niemanden über Ms. Taine so respektwidrig zu reden, wie Dein Brief es thut - und Dir am wenigsten, weil es wider allen Anstand geht, Jemanden so zu behandeln, von dem Du weißt, daß ich ihn hochhalte(...)" Tatsächlich hatte sich Erwin Rohde in einem Brief an Franz Overbeck, von dem Nietzsche vermutlich kein Wissen hatte, nach dem Erscheinen von 'Jenseits von Gut und Böse' abschätzig über Nietzsches Denken geäußert. Zu Konzessionen in Bezug auf sein Philosophie ist Nietzsche zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr bereit. Sein Werk ist zum Schluß hin das Einzige, was ihn noch mit den Mitmenschen verbindet.

Fjodor M. Dostojevsky


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