Ecce Homo

Der Aufstieg

Kindheit

Schulzeit

Studium

Professur

Der Wanderer

Heimatlos

Krank, einsam und vo...

Stationen

Meer und reiner Himmel

6000 Fuß über dem ...

Das Gute ist mir Med...

Lou

Zarathustra

Die Umwerthung

Finale

Der Untergang

Siechthum

Tod

 

Krank, einsam und voller Gedanken

In den Briefen Nietzsches in den ersten Jahren nach der Aufgabe der Professur finden sich zwei Hauptthemen: Krankheit und Einsamkeit. Über Nietzsches Krankheit ist viel spekuliert worden. Die Vermutung, daß Nietzsche an der Lues litt, rechtfertigt sich zwar aus vielen Symptomen seiner Krankheit und natürlich aus dem Zusammenbruch 1889, gleichzeitig bleibt es aber doch nur eine unbewiesene These. Man muß sehen, daß Nietzsche bereits als zwölfjähriger Schüler des Domgymnasiums in Naumburg wegen ständiger Kopf- und Augenschmerzen beurlaubt wurde. Auch im Krankenbuch zu Pforta wird Nietzsche als ein Schüler geführt, der "oft von wanderndem Kopfschmerz geplagt" wurde. Hinzurechnen muß man die Folgen seiner Ruhr-Erkrankung während seiner Zeit als Sanitäter 1870.

Nach dem Weggang Titelbild zu der Wanderer und sein Schattenaus Basel verschlimmert sich Nietzsches physischer Gesundheitszustand zunehmend, gleichzeitig scheint die Krankheit aber auch Zustände höchster psychischer Entzückung hervorzubringen, die Nietzsches geistige Entwicklung als einen Sprung in neue Welten erscheinen lassen. Generell wechselt der Ton in den Briefen oft - nie gekannten euphorischen Stimmungen folgen nun bei Nietzsche Perioden der inneren Leere und des Unbehagens. Anfang Januar 1880 schreibt Nietzsche: "Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichen Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte - diese erkenntnisdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz (...) Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen, Bergluft, Milch- und Eier-Diät. (...) Nach der letzten Untersuchung hat die Sehkraft wieder erheblich abgenommen."

Besonders häufig klagt Nietzsche über das Gefühl, einsam zu sein. Einerseits resultiert dies natürlich daraus, daß Nietzsche auf der Suche nach idealen klimatischen Bedingungen zwischen 1879 und 1883 sich auf einer permanenten Wanderschaft befindet und regelmäßige Kontakte nur in Briefform pflegen kann, hinzu kommt aber noch ein viel tiefer liegender Grund. Nietzsche entdeckt philosophische Gedanken, die mit keinem Menschen teilbar sind - zwar wird er versuchen, sie in seinen Werken mitzuteilen, aber er wird die grundlegende Erfahrung machen, daß er nicht oder falsch verstanden wird. Die Einsamkeit ist aber nicht nur Folge seiner Denkanstrengungen, sondern auch die Ursache für das mutige und rücksichtslose Entdecken neuer Wahrheiten - die Distanz zu den Menschen gehört wesentlich zum Denker. Dies hatte Nietzsche schon bei Schopenhauer erkannt, auch Zarathustra wird seine Wahrheiten aus einsamen Bergeshöhen herabtragen.

Das erste WerkEisläufer in St. Moritz, daß der schwerkranke Nietzsche aus seiner Einsamkeit mitbringt, entsteht 1879 in St. Moritz im Engadin mit Hilfe des Freundes Heinrich Köselitz, der druckreife Abschriften verfertigt und Korrektur liest. Nietzsche erwähnt es zunächst unter dem Titel 'St. Moritzer Gedanken-Gänge', später erhält es den programmatischen Titel 'Der Wanderer und sein Schatten' - Nietzsche versammelt weitere 350 menschliche, allzumenschliche Gedanken in Aphorismenform. Dieses Werk, das isoliert 1880 erscheint, nimmt Nietzsche 1886 in die zweite erweiterte Auflage von 'Menschliches - Allzumenschliches' auf.

Den Aphorismus als Form wählt Nietzsche aus zwei Gründen: einerseits wendet sich Nietzsche bewußt gegen den Willen zum System, andererseits entspricht die Verwendung des Aphorismus auch Nietzsches genereller Arbeitstechnik. Durch Krankheit und ständiges Unterwegssein konnte Nietzsche seine Gedanken nicht kontinuierlich ausarbeiten. Statt dessen entstanden laufend kurze Aufzeichnungen, Notizen, Aphorismen und fragmentarische Essays. Nietzsche wählte dann aus diesem Material aus und überarbeitete diese Fragmente für seine jeweiligen Veröffentlichungen. Dies wird auch für seine Werke 'Morgenröthe'(1881) und für 'Die fröhliche Wissenschaft' (1882) das maßgebliche schriftstellerische Verfahren Nietzsches sein. So wird verständlich, daß der umfangreiche Nachlaß mehr ist als nur das Rohmaterial für die veröffentlichten Bücher, sondern als eigenständiges Werk begriffen werden muß und von den Herausgebern Colli / Montinari auch begriffen wurde.

Die Produktivität Nietzsches trotz Krankheit und unstetem Leben ist ein Rätsel, denn neben den Aufzeichnungen schreibt Nietzsche auch kontinuierlich Briefe und berichtet von Lektüreerfahrungen oder bittet um die Zusendung von für seine gedankliche Arbeit unbedingt notwendigen Büchern. Nietzsches erster Sommer nach der Aufgabe der Professur in St. Moritz bringt gesundheitlich keine Verbesserung - Nietzsche wird über das Jahr 1879 später resümierend schreiben, daß er an 118 Tage von Anfällen heimgesucht wurde. So sehr er sich sicher ist, philosophisch auf dem richtigen Weg zu sein, einen festen Ort, der klimatisch zuträglich ist, eine gewohnte Lebensweise, die seinen Anfällen vorbeugt - dies sucht Nietzsche in den folgenden Jahren zunächst vergeblich.


zurück weiter