Nietzsche wird sechs Monate bis Ende März 1882 in Genua verbringen. Ein Grund für diese Wahl ist die Möglichkeit, schnell Ärzte in Basel aufsuchen zu können. In Erwartung der Fertigstellung des Gotthard-Tunnels plant Nietzsche "lange Consultationen" von Augen- und Zahnärzten in Basel. Dabei bessert sich Nietzsches Befinden zunehmend. Am 18. November schreibt er: "Wir hatten das schönste Wetter inzwischen, und alles in allem, ich habe nie Besseres erlebt. Jeden Nachmittag sitze ich am Meere. Durch die Abwesenheit der Wolken ist mein Kopf frei, und ich bin voller guter Gedanken und Absichten (...)." In Genua macht Nietzsche auch eine Musikerfahrung, die er später immer wieder exemplarisch im Kampf gegen Wagner herausheben wird: die Oper 'Carmen' von Bizet. Ende November schreibt er an Köselitz: "Hurrah! Freund! Wieder etwas Gutes kennen gelernt, eine Oper von Francois Bizet (wer ist das?): Carmén. (...) Ein ächt französisches Talent der komischen Oper, gar nicht desorientiert durch Wagner, (...) Es scheint, die Franzosen sind auf einem besseren Wege in der dramatischen Musik; und sie haben einen großen Vorsprung vor den Deutschen in Einem Hauptpunkte: die Leidenschaft ist bei ihnen keine so weit hergeholte (wie z.B. alle Leidenschaften bei Wagner)." Fälschlicherweise nennt Nietzsche als Vornamen des ihm noch unbekannten Komponisten Francois statt Georges. Kurze Zeit später steigert sich in sein Lob (das selbstverständlich viel mehr eine Distanzierung von Wagners Musik ist) für diese Oper, die er noch ein zweites Mal hört und deren Klavierauszug Nietzsche erwirbt: "Ich bin nahe daran zu denken, Carmen sei die beste Oper, die es giebt; und so lange wir leben, wird sie auf allen Repertoiren Europa´s sein." Neben der intensiven Beschäftigung mit der Musik schreibt Nietzsche in Genua an einer Fortsetzung der 'Morgenröthe', die jedoch angereichert werden soll mit den Erlebnissen oder Gedanken, die er in Sils Maria gemacht oder gedacht hat. Etwas kryptisch schreibt er im Januar nach Basel über die Fortsetzung: "(...) was in der ersten Hälfte steht, ist nur der Unterbau und die Vorbereitung von etwas Schwererem, Höherem (ja! es wird auch manches 'Schauderhafte' noch gesagt werden müssen)." Nietzsche ist unterwegs zum 'Zarathustra'. Um erkennbar werden zu lassen, daß die veröffentlichten Gedanken eine neue geistige Stufe darstellen, wird Nietzsche schließlich die gesammelten Aufzeichnungen 'Die fröhliche Wissenschaft' nennen, anstatt sie als Fortsetzung der 'Morgenröthe' herauszugeben. Am Ende des vierten Buchs (Aphorismus Nr. 342 - 'Incipit tragoedia') betritt Zarathustra erstmals die Bühne. Insgesamt empfehle ich 'Die fröhliche Wissenschaft' als erste Lektüre. Nietzsche versammelt hier seine wesentlichen Gedanken in einem souveränen, gelassenen Ton. Auch das Motto (ein Emerson-Zitat) des Werkes, welches im Sommer 1882 erscheint, spricht diese Gelassenheit aus: "Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich." Im zentralen Aphorismus 276 'Sanctus Januarius' faßt Nietzsche seine Stellung zum Leben zusammen: "Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: - so werde ich einer von diesen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: Das sei von nun an meine Liebe!" Nietzsche verbringt den Winter alleine in Genua, Anfang Februar besucht ihn sein Freund Paul Rée. Er bringt ihm die Schreibmaschine mit, die zunächst defekt ist, Nietzsche aber umgehend reparieren läßt, um dann, sofort inspiriert durch das neue Produktionsmittel, vor allem Gedichte und Sentenzen zu verfassen z.B.: "GLATTES EIS EIN PARADEIS FUER DEN DER GUT ZU TANZEN WEISS." Mit Rée verbringt Nietzsche die ersten Märztage 1882 in Monaco. Mitte März verlässt Rée Genua, um weiter nach Rom zu reisen. Dort wird er, noch vor Nietzsche, Lou Salomé im Kreis Malwida von Meysenbugs kennenlernen und Nietzsche umgehend berichten. Nietzsche reagiert umgehend auf die enthusiastische (leider verlorengegangene - vernichtete?) Beschreibung, die Rée gibt. Rée hatte sie Nietzsche vermutlich als eine Frau passend für einen Mann mit dem Niveau Nietzsches (und damit selbstverständlich auch des eigenen Anspruchs!) beschrieben - vielleicht das erste Mißverständnis in einer Reihe von weiteren. Nietzsche schreibt jedenfalls überschwänglich an Paul Rée: "Grüssen Sie diese Russin von mir wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus - in Anbetracht dessen was ich in den nächsten 10 Jahren thun will brauche ich sie. Ein ganz anderes Capitel ist die Ehe - ich könnte mich höchstens zu einer zweijährigen Ehe verstehen, und auch dies nur in Anbetracht dessen was ich in den nächsten 10 Jahren zu thun habe." Auch Malwida von Meysenbug schreibt Nietzsche nach Genua über den außerordentlichen Eindruck, den Lou auf sie macht - vielmehr, daß Nietzsche dieses "sehr merkwürdige Mädchen", das "ungefähr im philosophischen Denken zu denselben Resultaten gelangt" sei wie er selbst (Nietzsche), unbedingt kennenlernen muß. Sie lädt ihn ausdrücklich nach Rom ein. Nietzsche verläßt Genua aber nicht Richtung Rom, sondern mit einem sizilianischen Segelfrachter reist er schwer seekrank nach Messina, wo er schließlich fast einen Monat, begeistert vom Klima, verbringen wird. Die Gedichtsammlung 'Idyllen aus Messina', die später im Juni 1882 in der 'Internationalen Monatsschrift. Zeitschrift für allgemeine und nationale Kultur und deren Literatur' erscheint, spiegelt etwas von Nietzsches hoffnungsfroher Stimmung und guten Gesundheit wider. Eigentlich plant Nietzsche, den ganzen Sommer in Messina zu verbringen, der Scirocco (ein heißer Wind) zwingt Nietzsche schließlich doch zur Abreise. Nietzsche wendet sich im April 1882 nach Rom, um Malwida von Meysenbug und den Freund Paul Rée zu treffen. Natürlich will er endlich auch die Bekanntschaft mit dem "merkwürdigen Mädchen" Lou Salomé machen. |