Nietzsche schreibt unterdessen eifrig Briefe an Lou und Rée. Sogar vor romantischen Klischees schreckt der verliebte Nietzsche nicht zurück, um Lou seine Leidenschaft zu offenbaren. In einem Brief Ende Mai 1882 aus Naumburg schreibt er: "... Die Nachtigallen singen die ganzen Nächte durch vor meinem Fenster. Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich es bin und sein kann: beachten Sie diesen Unterschied wohl! - Wenn ich ganz allein bin, spreche ich oft, sehr oft Ihren Namen aus - zu meinem größten Vergnügen!" Nietzsche ist sich offenbar bewußt, daß er in einem Konkurrenzverhältnis zu seinem Freund Rée steht, aber dieser Brief deutet zugleich eine Art Aufgabenverteilung innerhalb des Dreiergespanns an. Nietzsche möchte mehr als ein Freundschaftsverhältnis zu Lou: Liebender und Lehrender in einer Person, diese Rolle will Nietzsche vereinen. Dabei verliert Nietzsche aber nie seine philosophische Aufgabe aus den Augen: "Ich habe bisher nie daran gedacht, daß Sie mir "vorlesen und schreiben" sollen; aber ich wünschte sehr, Ihr Lehrer sein zu dürfen. Zuletzt, um die ganze Wahrheit zu sagen: Ich suche jetzt nach Menschen, welche meine Erben sein könnten; ich trage Einiges mit mir herum, was durchaus nicht in meinen Büchern zu lesen ist - und suche mir dafür das schönste und fruchtbarste Ackerland. Sehen Sie meine Selbstsucht!" schreibt er ihr am 26. Juni nach Stibbe in Westpreussen und lädt sie zugleich nach Tautenburg ein, um dort gemeinsam zu philosophieren. In Stibbe, im Hause der Eltern Paul Rées, war Lou inzwischen überaus gastfreundlich aufgenommen worden - Nietzsche hatte zwischendurch Mitte Juni vergeblich versucht, Lou im Grunewald zu treffen, um sie vor ihrem Besuch Rées noch einmal sprechen und sich ihrer versichern zu können. Trotz ihrer Absage reist Nietzsche spontan nach Berlin, um Lou noch auf dem Anhalter-Bahnhof abzupassen. Dieses Vorhaben missglückt; Nietzsche berichtet an den Freund Rée nach Stibbe: "In Berlin war ich wie ein verlorener Groschen, den ich selber verloren hatte und Dank meiner Augen nicht zu sehn vermochte, ob er mir schon vor den Füßen lag, so daß alle Vorübergehenden lachten. Gleichniß! -" Nietzsche wird umgehend krank, forciert gleichzeitig aber die Idee, einen längeren Aufenthalt mit Lou in Tautenburg zu organisieren. Bevor er also Ende Juni Lou einlädt, beichtet er endlich der Schwester und der Mutter die Bekanntschaft mit Lou und die Pläne des Studienaufenthalts in Wien. Nietzsche bindet nun Elisabeth, die Schwester in seine Pläne ein - was sich im weiteren Verlauf als ein großer Fehler herausstellen wird - Nietzsche, der Seelenforscher, ist nicht in der Lage, die sich zwangsläufig aus der Eifersucht der Schwester ergebenden Komplikationen vorauszusehen. Liebe macht offenbar auch Nietzsche blind. Im Rahmen der Bayreuther Festspiele soll in Abwesenheit Nietzsches das erste Kennenlernen der beiden Frauen stattfinden - im Weiteren weist Nietzsche der Schwester Elisabeth die erniedrigende Nebenrolle einer Anstandsdame in Tautenburg zu. Zeitgleich mit diesen Plänen beendet Nietzsche, der inzwischen in Tautenburg weilt, das Druckmanuskript der 'Fröhlichen Wissenschaft'. Er sieht dieses Buch als den Abschluß einer ersten philosophischen Stufe. An Malwida schreibt er am 13. Juli aus Tautenburg: "Die fröhl. W. (...) bildet den Schluß jener Gedanken-Kette, welche ich damals in Sorrent zu knüpfen anfieng... (...) Die nächsten Jahre werden keine Bücher hervorbringen - aber ich will wieder, wie ein Student, studieren." Ein anderes Zeichen seiner euphorischen Stimmung Nietzsches ist der Umstand, daß Nietzsche wieder komponiert. Ihn überfällt der 'Dämon der Musik'. So vertont er das Gedicht 'An den Schmerz' von Lou Salomé. Inzwischen kommt es in Bayreuth zur Uraufführung des Parsifal, an deren Vorstellung Lou und Elisabeth teilnehmen. Beide gehören auch zu den Gästen im Hause Wahnfried. Bei den Zusammenkünften, deren absoluter Mittelpunkt Cosima und Richard Wagner sind, fällt aber auch Lou Salomé durch ihr ungezwungenes Verhalten besonders den Männern auf - sie erregt so das Mißfallen und bestimmt auch den Neid der Jungfer Elisabeth. Klatsch bildet sich um Lou, die anscheinend auch in Bayreuth den Männern den Kopf verdreht - dazu kommt schließlich, daß sie Nietzsche durch das offene Herumzeigen des pikanten, in Luzern entstandenen Peitschenbildes in den Augen Elisabeths lächerlich macht. Elisabeth setzt Nietzsche sofort brieflich in Kenntnis über das ihrer Ansicht nach respektlose und skandalöse Verhalten der leichtfertigen Lou Salomé. Nietzsche scheint verwirrt und reagiert auf die Intrige, indem er Lou vermutlich brieflich Vorwürfe macht. Da Lou derartige Unterstellungen zurückweist, lenkt er schließlich am 4. August ein: "Kommen Sie ja, ich bin zu leidend, Sie leidend gemacht zu haben. Wir ertragen es miteinander besser." - und Lou sagt nun für den 7. August in Tautenburg zu. An diesem Tag, Nietzsche will Lou und Schwester von Jena nach Tautenburg abholen, zerbricht die Maske. Elisabeth, die bis dahin von Lou noch beinahe als 'Schwester'gesehen wird, der sie "herzlich dankbar" ist (Brief vom 2. August an Nietzsche), konfrontiert sie unversehens im Hause der befreundeten Familie Gelzer mit ihrem 'unsoliden' Bayreuther Lebenswandel, was dem Ansehen ihres Bruders, der ein 'Heiliger', ein 'Asket' sei, nicht zuzumuten ist -da öffnet ihr Lou die Augen und zerstört das idealistische Bild, das sich Elisabeth von ihrem Bruder macht. Lou wird Nietzsche nicht nur als "Egoisten im großen Stil" bezeichnen (was zudem Kern seiner Philosophie sei) und so das Bild des Heiligen zerstören, sondern auch Nietzsches Vorschlag einer wilden Ehe thematisieren. Elisabeth erregt sich in dem Streit so sehr, daß sie erbrechen muß. Während Lou diesen Streit (später - und sich einbeziehend) als "Kleinmädchensache" abtun kann, begründet diese Desillusionierung und Kränkung der 'Naumburger Tugend' Elisabeths lebenslangen Haß auf Lou Salomé. Anscheinend einigen sich die Frauen trotzdem, gemeinsam mit Nietzsche nach Tautenburg zu gehen. Ihm wird, als er nach Jena kommt, eine theaterreife Komödie vorgespielt. Er schreibt in einem Brief: "Bei Gelzers in Jena hatte ich den angenehmsten Nachmittag." Natürlich kommt es gleich in Tautenburg, wo beide Frauen unter einem Dach wohnen, wieder zu Auseinandersetzungen, die sich während des ganzen Aufenthaltes wiederholen. Auch Nietzsche scheint Lou Vorwürfe zu machen, aber die Zuneigung und der Wille voneinander Gewinn zu ziehen, deckt alles Trennende zu. Paul Rée schreibt vermutlich auf eine Klage Lous hin dieser nach Tautenburg: "Nietzsche scheint Dich, merkwürdig genug, als seine Braut angesehen zu haben, sobald Du einwilligtest nach Tautenburg zu kommen? Und in seiner Eigenschaft als Bräutigam machte er Dir Vorwürfe über Bayreuth-Geschichten?" Nietzsche und Lou verbringen die Tage mit ausgedehnten Spaziergängen durch die Wälder um Tautenburg im steten und intensiven Gespräch, wobei die Schwester entweder völlig außen vor gelassen wird, oder aber nicht versteht, wovon philosophisch die Rede ist. Nietzsche hält es täglich oft 10 Stunden und bis tief in die Nacht hinein aus, sich mit Lou auszutauschen, er verfaßt eine rhetorische Stillehre für Lou und korrigiert eigenhändig Aphorismen aus ihrer Feder. Lou schreibt in dem vor Nietzsche geheimgehaltenen (!) Tagebuch für den eifersüchtig in Stibbe ausharrenden Rée am 18.August: "Wir sprechen uns diese drei Wochen förmlich todt und sonderbarer Weise hält er es jetzt plötzlich aus circa 10 Stunden täglich zu verplaudern (...) Sind wir uns nah? Nein, bei alledem nicht. Es ist wie ein Schatten jener Vorstellungen über mein Empfinden, welche N noch vor wenigen Wochen beseligten, der uns trennt, der sich zwischen uns schiebt. Und in irgend einer verborgenen Tiefe unseres Wesens sind wir weltenfern von einander (...) Seltsam, mich durchfuhr neulich der Gedanke mit plötzlicher Macht, wir könnten uns sogar einmal als Feinde gegenüberstehen." Nietzsche nimmt von dieser fundamentalen Fremdheit nichts wahr, er ist beseelt davon, endlich einen Gesprächspartner nach seinen Vorstellungen zu haben. Ihn befremdet nicht einmal Lous Geständnis, mit der Musik Wagners und Musik insgesamt nicht viel anfangen zu können. Lou, so sehr sie die intellektuellen Fähigkeiten Nietzsches schätzt, ist menschlich schon seit Rom Paul Rée näher. Längst duzt sie sich mit Rée, man gibt sich in den Briefen Kosenamen. Nietzsche jedoch glaubt, aus Unkenntnis der wahren gefühlsmäßigen Bindungen, die ihm verheimlicht werden, und aus Verliebtheit, daß er in Tautenburg Lou Salomé nun ganz für sich gewinnen kann. Im Verlauf des Zusammenseins mit Lou scheint sich bei Nietzsche schließlich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, daß Lou sich mehr zu Rée hingezogen fühlt - ihm bleibt damit immer noch die Rolle des Lehrers einer überaus begabten Denkerin, die seine Philosophie weiter tragen soll. Aber auch hier irrt Nietzsche, wie sich in den Notizen Lous für Rée zeigt. Wie ein glückliches Zeichen, und Nietzsche ist ein Zeichenleser, erscheint auch just während der Tautenburger Tage endlich 'Die fröhliche Wissenschaft'. Als man für Nietzsche zwei Sitzbänke errichtet, läßt Nietzsche auf eigene Kosten von einem Graveur spezielle Platten fertigen, die er an den Bänken anbringen lassen will - eine trägt den Titel 'Die fröhliche Wissenschaft' - schließlich zerschlägt sich dieser Plan am Widerstand der Gemeinde. Am 26. August reist Lou Salomé nach Stibbe zu Paul Rée ab - Nietzsche reagiert auf die Trennung, indem er am Tag vor der Abreise krank wird. An Lou läßt er als Nachricht überbringen: "Zu Bett. Heftigster Anfall. Ich verachte das Leben." Doch am nächsten Tag rafft er sich zusammen: "Meine liebe Lou, Pardon für gestern! Ein heftiger Anfall meines dummen Kopfleidens - heute vorbei. Und heute sehe ich Einiges mit neuen Augen.- Um 12 Uhr bringe ich Sie nach Dornburg [der Bahnstation]: - aber vorher müssen wir noch ein halbes Stündchen sprechen (bald, ich meine, sobald Sie aufgestanden sind.) Ja? - Ja! F.N." Was bleibt? Nietzsche glaubte, in Lou endlich einen Menschen gefunden zu haben, dem er sich öffnen kann - und wird schließlich enttäuscht. Nietzsche bleibt nur eine, wenngleich bedeutsame, Episode im Leben Lous - für Nietzsche gehören die Tautenburger Tage wohl zu den schönsten in seinem Leben. |