Von Naumburg reisen Friedrich Nietzsche und sein Freund Paul Deussen im September 1864 zu ihrem gewählten ersten Studienort Bonn. Station machen Sie zuvor in Elberfeld bei Wuppertal und nach einer ausgelassenen Rheinreise verbringen die beiden Freunde die Zeit bis zum Beginn ihres Studiums in Oberdreis, im Westerwald. Dort ist Deussens Vater Pastor. Nietzsche berichtet sofort ausführlich nach Naumburg an Mutter und Schwester. Er wird sein ganzes Leben ein leidenschaftlicher Briefeschreiber sein. Nietzsche benötigt den schriftlichen Dialog zur Selbstklärung, weiß zudem, daß Schreiben das Beobachten und das Beurteilen von Personen und Sachverhalten vereinfacht. Nietzsche, das zeigen ganz besonders seine Briefe, ist ein genauer Beobachter, der das Wesentliche einer Situation, einer Person, einer Umgebung, eines Buches deutend verstehen will. Am 8. Oktober 1864 schreibt er aus Oberdreis: "Meine Anschauungen übers Volksleben und Sitten bereichern sich täglich. Ich merke auf alles, auf Eigenthümlichkeit des Essens, der Beschäftigung, der Feldwirthschaft". Nietzsches Wille ist es, aus Anschauung zu lernen. Anschauung, Lebenserfahrung, Sinnenfreude ist das vorläufige Ziel des angehenden Studenten Friedrich Nietzsche. Am 16. Oktober 1864 treffen die beiden Freunde in Bonn ein. Nietzsche findet Quartier bei dem Drechsler Oldag im Eckhaus Bonn- und Gudenauergasseecke 518 (in der Nähe des Beethovenhauses, wie Nietzsche ausdrücklich erwähnt), mietet sich sofort ein Pianino und bittet nach Offenlegung seiner Kosten sofort um Geld. Das Aufstocken seines Budgets ist Thema vieler Briefe an die Mutter, wobei er z.B. im Brief vom 2. Februar offenlegt, daß er durchaus nicht verschwenderisch lebt, aber die Hausrechnung immer sehr hoch sei. Im Brief vom 18. Februar verschärft Nietzsche den Ton und er fordert umgehende und größere finanzielle Unterstützung. Viel Geld gibt Nietzsche während der ganzen Bonner Zeit für häufige Besuche von Konzerten und Theatervorstellungen aus. Eine der ersten Handlungen Nietzsches als Theologie (!)- und Philologiestudent ist der Eintritt in die Verbindung Franconia, die traditionell viele Philologen und Pfortenser als Mitglieder hatte. Nietzsche nimmt lebhaft und intensiv, und wenigsten zu Beginn anscheinend spontan, am Leben der Burschenschaft teil. Bald ändert sich aber sein Verhältnis zum Verbindungsleben, zur 'Biergemüthlichkeit', zunehmend in den für Nietzsche typischen Distanzierungphasen: zunächst kommt es zu einer Art innerlichen Distanzierung, dieser folgt eine Art Verstellungszeit, danach wird der Versuch gemacht, offen sein Mißfallen auszudrücken und eine Veränderung herbeizuführen, schließlich kommt es zum definitiven Bruch. Nietzsche, so könnte man sagen, kann sich nicht dauerhaft gegen seine Natur stellen. So sehr er zunächst programmatisch die studentische Geselligkeit idealisiert, so sehr spürt seine Umgebung, daß es gleichsam eine unüberbrückbare Distanz gibt. Ein sog. 'Bundesbruder', der spätere Professor Hersting berichtet, daß Nietzsche kein lustiger Student gewesen wäre und niemals das Bedürfnis gezeigt hätte, sich auszutoben. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß Nietzsche, ohne daß es in der Verbindung Pflicht gewesen wäre, einmal Mensur schlug und eine Narbe davontrug. Inwieweit dieser Kampf zu seiner Verstellungsstrategie gehörte oder Teil von Nietzsches antik geprägter Tugendvorstellung ist, in der Tapferkeit zu den Kardinaltugenden zählte, ist nur zu vermuten. Nietzsche, der Individualist von Natur aus, gehört trotz aller Bemühungen niemals wirklich irgendwo dazu. Neben dem Leben in der Verbindung nimmt Nietzsche an den Sitzungen der 'Gustav-Adolf-Gesellschaft' teil, eine protestantisch ausgerichtete Vereinigung im ansonsten vom Katholizismus geprägten Rheinland. Er hält sogar einen Vortrag über 'Die kirchlichen Zustände der Deutschen in Nordamerika'. Er singt weiter im Chor und nimmt sogar am Sängerfest in Köln als Sänger teil. Am wichtigsten im ersten Studienjahr Nietzsches in Bonn ist eine fundamentale geistige Entscheidung, die sich schon in Pforta angekündigt hatte: die Abwendung vom Christentum und damit vom Studienfach Theologie. Im Brief vom 2. Februar 1865 an seine Mutter und Schwester teilt Nietzsche lakonisch mit: "Noch dies: meine Wendung zur Philologie ist entschieden. Beides zu studieren ist etwas Halbes". Nietzsche gibt das Studium der Theologie auf, weigert sich beim Osterbesuch 1865 in Naumburg schließlich demonstrativ, am Abendmahl teilzunehmen. Nietzsche hat sich definitiv für die Antike als sein geistiges Fundament entschieden. Schon ein Jahr zuvor, zwanzigjährig, verabschiedet sich Nietzsche in Form eines Gedichts, wie die überzeugende Interpretation Helmut Walthers zeigt, vom christlichen Glauben. Lesen Sie hier diesen kleinen profunden philologischen Leckerbissen. Nietzsche besucht in Bonn unsystematisch Veranstaltungen zu verschiedenen Sachgebieten z.B. über Kunstgeschichte, Politik, Kirchengeschichte. Insgesamt hörte Nietzsche in seinem ersten Semester wohl kein Kolleg vollständig. Nicht einmal im Seminar des Altphilologen Ritschl, seinem späteren Förderer, ist er nachgewiesenes Mitglied. Nietzsche beurteilt später, in dem Brief vom 30. August 1865 an Hermann Mushacke (den einzigen Freund, den er in Bonn erwirbt), selbstkritisch diese Zeit, wenigstens was das Studium betrifft: "Ich muß höhnisch auf meine vollendeten Arbeiten aus der Bonner Zeit sehen, da ist ein Aufsatz für den Gustav-Adolf-Verein, einer für den burschenschaftlichen Abend und einer für das Seminar. Abscheulich! Ich schäme mich, wenn ich an dies Zeug denke. Jede meiner Pennalarbeiten war besser." Andererseits bewertet Nietzsche rückblickend das Jahr in Bonn auch positiv und etwas altklug: "Ich hoffe, daß ich auch dieses Jahr einstmals vom Standpunkte der Erinnerung aus freudig als ein notwendiges Glied meiner Entwicklung einregistrieren kann." Seit Bonn kennt Nietzsche seinen Weg, seit Bonn will er Philologe werden. Mit seinem Freund Carl von Gersdorff, der in Göttingen unglücklich Jura studiert und Fach wie Ort wechseln will, plant Nietzsche im Mai 1865 das gemeinsame Studium in Leipzig. Tatsächlich entscheidet er sich für Leipzig, bevor bekannt wird, daß der renommierte Altphilologe Ritschl auch von Bonn nach Leipzig wechselt. So ist es falsch, davon zu sprechen, Nietzsche wäre seinem späteren Lehrer nach Leipzig gefolgt. Nietzsche, der schon in Pforta viel über Fatum nachgedacht hatte, mußte diese Entwicklung aber sicherlich als eine glückliche Fügung beurteilen. Nicht hat Nietzsche in Bonn seine Neigung zur Musik aufgegeben, nur korrigiert er dort sein Verhältnis zur Musik. In einem Brief schreibt er: "Ich gehe nun nicht nach Leipzig, um dort nur Philologie zu treiben, sondern ich will mich wesentlich in der Musik ausbilden", wobei er Abstand vom Komponieren nimmt: "Ich werde ein wenig zu kritisch, um mich noch länger über meine etwaige Begabung täuschen zu können". Er spricht davon, sein kritisches Vermögen überhaupt zu entwickeln. Schon in den ersten Tagen in Bonn besucht Nietzsche das Grab Schumanns und legt dort einen Kranz nieder. Zum Schluß muß man noch auf eine Episode der Bonner Zeit zu sprechen kommen, die stets Grund für Spekulationen gewesen ist: Nietzsches unfreiwilliger Besuch eines Kölner Bordells. Paul Deussen überlieferte diese Geschichte. Während eines Besuchs in Köln wird Nietzsche, der Naive, von einem Dienstmann statt in ein Restaurant in ein Bordell geführt: "Ich sah mich", so erzählte Nietzsche am anderen Tag "plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsfroh ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie". Jedenfalls wird diese Geschichte immer mit der Vermutung verknüpft, Nietzsche könnte sich schon zur Bonner Zeit mit der Syphillis angesteckt haben. Hier nun läge der Grund seiner späteren Krankheit. 'Se non e´ vero ...', so zeigt diese doch auch humoristische Szene einen Sachverhalt ganz deutlich, der später durchaus große Bedeutung gewinnt: Nietzsches Schüchternheit gegenüber Frauen und Nietzsches Strategie, durch Musik in einer Situation des seelischen Ungleichgewichts zu sich zu kommen. Jedenfalls ist es seltsam, daß während Nietzsches Zeit in Bonn von keiner Verliebtheit die Rede ist, wobei doch bestimmt angenommen werden darf, daß dieses Thema vorherrschend bei den Gesellschaften der Verbindung Franconia war. Am 9. August 1865 verläßt Nietzsche Bonn und verbringt den Sommer reflektierend über die Zeit in Bonn, besucht Freunde in Pforta, ißt, wie er sagt, etwas Hegelsche Philosophie und unterschreibt einen Brief an Herrmann Mushacke in Berlin mit 'Theognis antiker Kleinstädter außer Dienst bei seiner Familie'. Vom 1. bis zum 17. Oktober besucht er dann noch diesen Freund in Berlin, besichtigt unter anderem Potsdam und bricht am 17. Oktober mit Mushacke auf nach Leipzig. Seine kommenden Studienjahre dort bringen die entscheidenden Bildungserlebnisse und Begegnungen, die den Denker Nietzsche fortan prägen. Helmut Walther gibt auf unserer Partnerseite einen hervorragenden Überblick über die Bonner Zeit. |