Am 17. Oktober 1865 trifft Friedrich Nietzsche, mit seinem Freund Hermann Mushacke aus Berlin kommend, in Leipzig ein. Bis zu seiner Abreise nach Basel als Doktor und Professor der Philologie im Frühjahr 1869 vergehen, rechnet man eine dazwischenliegende sechsmonatige Militärzeit und eine dreimonatige Genesungszeit nach einem unglücklichen Reitunfall während dieses Militärdienstes ab, nicht einmal drei Jahre. Für Nietzsche ist die Zeit in Leipzig aus verschiedenen Gründen von entscheidender Bedeutung. Professor Ritschl erkennt die philologische Ausnahmebegabung Nietzsches und wird ein für ihn erfolgreich wirkender Mentor, in Leipzig lernt Nietzsche das Werk des Philosophen Arthur Schopenhauer kennen, hier wird er dem Komponisten Richard Wagner begegnen und schließlich findet er in Erwin Rohde einen klugen und bis zum Schluß treuen Freund. Nietzsche mietet in der Blumengasse 4 ein Zimmer im Haus des Antiquars Rohn. Hier entdeckt er in den ersten Leipziger Tagen Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung' und deutet diesen Fund sogleich zu einer Art Schicksalsbegegnung um. Wie Augustinus die Worte "Nimm und lies!" zum Ausgang seiner Bekehrung macht, so schreibt Nietzsche später über seine philosophische Initiation: "Eines Tages fand ich nämlich im Antiquariat des alten Rohn dies Buch, nahm es als mir völlig fremd in die Hand und blätterte. Ich weiß nicht, welcher Dämon mir zuflüsterte: "Nimm Dir dies Buch mit nach Hause." Zu Weihnachten 1865 schon wünscht sich Nietzsche von Arthur Schopenhauer 'Parerga und Paralipomena' und dazu das 1865 erschienene Werk 'Schopenhauer und seine Philosophie' von einem Autor namens Haym. Neben der pessimistischen und kunstmetaphysischen Philosophie, beeindruckte Nietzsche vor allem die geistesaristokratische Haltung Schopenhauers und der unzeitgemäß kompromißlose Wahrhaftigkeitstrieb, von dem der Philosoph Schopenhauer erfüllt war. Jahre später, als Nietzsche das philosophische System Schopenhauers längst nicht mehr akzeptieren kann, schreibt Nietzsche in der unzeitgemäßen Betrachtung 'Schopenhauer als Erzieher' über das überwältigende Bildungserlebnis: "Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt dasselbe wie vor neun Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte: um mich verständlich, aber unbescheiden und töricht auszudrücken". Mit dem Titel 'Schopenhauer als Erzieher' macht Nietzsche deutlich, was ein Philosoph für Nietzsche sein und können muß: er muß einerseits zu einem höheren Ideal erziehen können und vor allem, er muß einen sprachlichen Ton finden, aus dem unmittelbar Vertrauen und Wahrhaftigkeit spricht. Helmut Walther liefert auf unserer Partnerseite unter dem Titel 'Nietzsche als Erzieher' eine exzellente Interpretation dieser Schrift. Daß Nietzsche die Stilfrage reflektierte, zeigt ein Brief an Mushacke vom April 1867: "Ich stolpere nämlich über ein kaum früher beachtetes Hindernis; ich habe nämlich im Deutschen schlechterdings keinen Stil, obgleich den lebhaften Wunsch, einen zu bekommen (...) Als Gymnasiast schreibt man bekanntlich keinen Stil; als Student hat man nirgens Übung; was man schreibt, sind Briefe, somit subjektive Ergüsse, die keinen Anspruch auf künstlerische Form machen. Also kommt einmal eine Zeit, wo uns die tabula rasa unserer stilistischen Künste ins Gewissen steigt." Diese beiden Punkte, die weniger mit dem Inhalt als der Gestalt der Philosophie Schopenhauers zu tun haben, bestimmen den Philosophen Nietzsche. Ob ein Mensch ein Philosoph ist oder nicht, zeigt sich allein darin, ob er wie ein Philosoph lebt: die Haltung. Nietzsche zeigt auch hier die gewohnte Konsequenz, wenn er nach der ersten Lektüre Schopenhauer sich asketische Übungen auferlegt. Selbstverständlich weiß der enthusiastische Nietzsche sofort auch seine Freunde für Schopenhauer zu begeistern; bald schopenhauert er gemeinsam mit Mushacke und Gersdorff, wie Nietzsche in einem Brief an die Familie in Naumburg schreibt. Auch einer anderen zentralen Autorität, die den Lebensweg Nietzsches beeinflussen wird, begegnet Nietzsche bereits in den ersten Leipziger Monaten. Eigentlich ist es eine Wiederbegegnung, denn Professor Ritschl kennt Nietzsche bereits aus Bonn. Aber erst in Leipzig, erst in dem Moment, als sich Nietzsche entscheidet, das Studium der Philologie ernst zu nehmen, entwickelt sich ein zunehmend intimes Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Nach dem ersten Wiedersehen im Rahmen der Antrittsvorlesung Ritschls am 25. Oktober 1865, lädt Professor Ritschl Nietzsche und Kommilitonen zu einer Abendgesellschaft am 1. Dezember 1865 ein. Hier schlägt er seinen Studenten die Gründung eines Philologischen Vereins vor. Schon in der zweiten Sitzung am 18. Januar 1866 hält Nietzsche seinen ersten Vortrag über 'Die letzte Redaktion der Theognidea', ein Thema, das Nietzsche bekanntlich schon als Abschlußarbeit in Pforta behandelt hatte. Diesen Vortrag schickt er an Ritschl, von dem er am 24. Februar 1866 zu einem Gespräch unter vier Augen eingeladen wird. Ritschl erklärt ihm nach einigen Nachfragen, "daß er noch nie von einem Studierenden des 3. Semesters etwas Ähnliches der strengen Methode nach, der Sicherheit der Kombination nach gesehen zu haben." Nietzsche, der nach dem Treffen wie "im Taumel umhergeht", schreibt diesem Lob seine eigentliche Geburt als Philologe zu. Ritschl veranlaßt Nietzsche den Vortrag für die von ihm herausgegebene Zeitschrift 'Rheinisches Museum für Philologie' umzuschreiben. Dort erscheint der Artikel, der gleichsam sein Entreebillet in die gelehrte Welt ist, im folgenden Jahr 1867 unter dem Titel 'Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung'. Nach dieser ersten Begegnung besucht Nietzsche fast wöchentlich ein paar Mal zur Mittagsstunde Ritschl und findet ihn jederzeit bereit "ein ernstes oder lustiges Gespräch anzuknüpfen." Nietzsche erfüllt scheinbar die Erwartungen seines väterlichen Förderers zunächst vollständig. Zum Wintersemester 1867/68 wird er in den erlesenen Zirkel der 'Societas philologica' aufgenommen und studiert nunmehr nahezuexklusiv bei Ritschl. Als sich Nietzsche mit dem Doxographen Diogenes Laertius beschäftigt, erreicht es der wohlwollende Ritschl, dieses Thema zum philologischen Wettbewerb der Universität Leipzig auszuschreiben. Der profunden Arbeit Nietzsches wird der Preis zugesprochen. Nietzsche sucht jedoch, wie seine Schopenhauerlektüre und auch seine Studien zu Diogenes Laertius beweisen, trotz aller Erfolge auf dem Gebiet der Philologie, genuin die philosophische Erkenntnis. Hier sieht er schon früh die Distanz zu dem Wissenschaftsideal Ritschl, das für Nietzsche von Selbstbeschränkung geprägt ist. Nietzsche, der so begabt und präzise philologische Probleme löst, will die Ergebnisse fruchtbar machen für das Leben in der Gegenwart. Philologie ist für ihn nicht Zweck, sondern Mittel der Selbsterkenntnis des Einzelnen und einer Kultur. Diese latent empfundene Differenz zur rein wissenschaftlich betriebenen Philologie, die Nietzsche schon sehr früh durchdenkt, wird erst 1871 manifest mit Nietzsches Schrift über 'Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik'. In Leipzig trägt Nietzsche, für ihn ein typisches Verhalten, eine Maske - diesmal die des von seiner Arbeit erfüllten Philologen. So kommt er der Einladungen der Zeitschrift 'Literarischen Centralblatt', Rezensionen zu schreiben, nach; so arbeitet er fleißig Ritschl zu; so nimmt er weiter aktiv an den Sitzungen des Philologischen Vereins teil und weitet den eigenen philologischen Horizont in Studien über Aeschylus, über die Homerfrage und lernt dabei die pessimistischen älteren Epiker Orpheus und Musaeus kennen. Seit dem Schopenhauer-Erlebnis beschäftigt sich Nietzsche intensiv und vornehmlich im Selbststudium mit der Philosophie. Er liest begeistert Friedrich Albert Langes 'Geschichte des Materialismus' und ist besonders von dem Atomisten Demokrit begeistert, über den er später sogar eine umfassende Arbeit schreiben will. Besonders beschäftigen Nietzsche erkenntnistheoretische Fragen, was ihn dazu bringt, sich mit Kant auseinanderzusetzen. In einem Brief vom August 1866 an Gersdorff faßt er Langes Werk in drei Sätzen und Kommentar zusammen. Diese Gedanken dürfen als Basis der erkentniskritische Grundhaltung Nietzsches und als Grundlage seines philosophischen Programms überhaupt gelten: "1. die Sinnenwelt ist das Produkt unserer Organisation 2. unsere sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen anderen Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes 3. Unsere wirkliche Organisation bleibt uns aber ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. Wir haben nur das Produkt von beiden vor uns.
Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unserer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen , ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen?-"
Nietzsche macht hier in letzter Konsequenz eine ähnliche erkenntnistheoretische Krise durch, wie der Dichter Heinrich von Kleist nach der Lektüre der Kantschen 'Kritik der reinen Vernunft', von der dieser im berühmt gewordenen Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22.3. 1801 berichtet. Der erst in Nietzsches Nachlass gefundene Aufsatz 'Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne', der zu den zentralen philosophischen Texten Nietzsches zählt, ist der Beschäftigung mit F.A. Lange zu verdanken. Nietzsche wird in Leipzig nicht nur als Philologe geboren, was wenigstens beruflich seine Existenz in den Jahren bis 1879 bestimmen wird, sondern in Leipzig entwickelt er sich zu einem Philosophen. In Leipzig beginnt die fast bis zur geistigen Umnachtung währende Freundschaft mit Erwin Rohde, einem Arztsohn aus Hamburg, der ähnlich wie Nietzsche philologisch überaus begabt und an Philosophie und Musik interessiert war. Rohde ist in Leipzig neben Mushacke und Gersdorff der wichtigste Freund Nietzsches. Er ist vielleicht der Einzige, den Nietzsche niemals die schnell als Arroganz und Besserwisserei ausgelegte geistige Überlegenheit spüren ließ. Beide teilen ein aus der Beschäftigung mit der Antike herkommendes Freundschaftsideal, das von Offenheit, gegenseitiger geistiger Förderung und Forderung, Anerkennung und dem Wunsch, zusammen aktiv zu sein und Pläne zu machen, geprägt ist. Wie sehr diese Prinzipien für Nietzsche Geltung haben, dies erfährt der inzwischen in Göttingen studierende Freund aus Pfortenser Tagen Paul Deussen, der sich in einem seiner Briefe anscheinend neidisch über die Erfolge Nietzsches mokiert. Nietzsche, der später besonders das Gefühl des Ressentiments als Wurzel vieler Übel haßte, erklärt auf einer Visitenkarte kurz und bündig: "Werter Freund, wenn nicht etwa zufällige Störungen des Kopfes Deinen letzten Brief verschuldet haben, so muß ich bitten, unsere Beziehungen hiermit als abgeschlossen zu betrachten." Er wird sich später nach einem Entschuldigungsbrief Deussens wieder mit ihm versöhnen, aber die Freundschaft ist tief gestört. Zusammen mit Erwin Rohde wohnt Nietzsche im Sommer 1867 in einem Haus in Leipzig, diskutierend, faulenzend und gemeinsam kulturelle Veranstaltungen genießend. Sie nehmen gemeinsam Reitunterricht und üben sich im Pistolenschießen. Nietzsche ist trotz seiner intensiven Studien während seiner gesamten Leipziger Zeit ein Gesellschaftsmensch, der in Cafes, Theatern, Konzerten, Opern seine Zeit verbringt, daneben im sog. Riedelschen Chor mitsingt. Sicher ist, daß sich Nietzsche spätestens in Leipzig mit der Syphillis ansteckte. Von der Liebe zu einer Frau, abgesehen zu den schwärmerischen Verliebtheiten zu Schauspielerinnen, gibt es keine Hinweise. Im Sommer 1867 unternehmen Erwin Rohde und Friedrich Nietzsche eine Ferienreise und wandern durch den Böhmer- und Thüringer Wald, besuchen das Musikfest in Meiningen und die Wartburg. Sie planen, gemeinsam ihr Studium in Paris (der Plan, in Paris zu studieren, wird übrigens fast fünfzehn Jahre später mit Lou Salome und Paul Ree wieder von Nietzsche aufgegriffen und: - scheitert erneut) fortzusetzen. Dieses fehlgeschlagene Vorhaben, dem Nietzsche noch lange Zeit später nachtrauert, zerschlägt sich ja bekanntermaßen an der unerwarteten Berufung Nietzsches als Professor nach Basel. |