Von den letzten Monaten in Turin gibt es neben den Briefzeugnissen vor allem eine Quelle, die den zunehmenden Wirklichkeitsverlust Nietzsches dokumentiert: die Berichte aus der Familie Fino, die Nietzsches Vermieter waren. Ernesto Fino berichtet vom Spätherbst 1888: "Der Professor wurde in Laune und Verhalten immer unausgeglichener (...).Das Drama des Wahnsinns begann sich abzuzeichnen. Auch seine Reden schienen ohne Zusammenhang. Es ist bekannt, daß er den Finos einmal ankündigte, daß in der Stadt ein großes Fest im Gange sei, und daß der König und die Königin sich anschickten, ihn in seinem Zimmer zu besuchen; und er schmückte sein Zimmer eigenartig aus, für den königlichen Besuch, den sich nur sein krankes Hirn einbildete." Nietzsche steigert sich insgesamt zusehends in eine Rolle von welthistorischer Bedeutung hinein, die er glaubt einzunehmen, fühlt sich zudem, wie er mehrmals betont, heiter und zuversichtlich. So schreibt er am 26. Dezember 1888, kurz vor dem schrecklichen Finale: "Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser, sammt Zubehör in den Händen habe. Unter uns! Sehr unter uns!-Vollkommene Windstille in der Seele! Zehn Stunden ununterbrochen geschlafen!" Am darauffolgenden Tag, am 27.12.1888 kommt es zu dem traurigsten, berühmten Zwischenfall, der stets als der manifeste Ausbruch der Umnachtung gedeutet wird, aber, wie gezeigt, nur die Spitze der Entwicklung in den Wahn darstellt. Überliefert ist der Bericht von einem Verwandten der Familie Fino: "Aber den Höhepunkt bildete die Episode jenes Tages, an dem Davide Fino den Professor auf der Via Po zwischen zwei Stadtpolizisten sah, gefolgt von einem Schwarm kreischender Menschen. Friedrich Nietzsche hatte, wenige Minuten zuvor, die Arme um den Hals des Pferdes einer Mietkutsche geschlungen und wollte ihn nicht mehr loslassen. Er hatte gesehen, wie der Kutscher den Vierbeiner geschlagen hatte und dabei einen so ungeheuren Schmerz empfunden, daß er sich veranlaßt sah, dem Tier seine Zuneigung zu bezeugen." Jetzt folgen Tage des sich steigernden Wahnsinns - wie ein Besessener schreibt Nietzsche an Freunde und Bekannte, auch an Cosima Wagner, die er Ariadne nennt, kurze und längere Briefe und Gedankenbruchstücke - sog. Wahnsinnszettel, die er mit 'Dionysos' oder 'Der Gekreuzigte' oder z.B. mit 'Nietzsche Caesar' unterschreibt. Am 5. Januar 1889 schreibt er einen längeren Brief an Prof. Burckhardt in Basel, der mit den berühmten Worten beginnt: "Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott, aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwillen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt (...)." Burckhardt reagiert auf diesem Brief, indem er sofort Franz Overbeck benachrichtigt. Nach den Berichten der Familie Fino steigerten sich unterdessen in den ersten Januartagen die Wahnhandlungen Nietzsches - er hielt Menschen auf der Straße an und sagte ihnen: "Ich bin Gott, ich habe mich so verkleidet, um mich den Menschen zu nähern.". Nietzsche zerreißt Geldscheine, auch Briefe, schreit und tanzt nackt und macht andere Sachen. Franz Overbeck reist am 7. Januar, nach dem Gespräch mit Burckhardt, sofort nach Turin. Er berichtet am 15. Januar 1889 in einem Brief an Heinrich Köselitz die erste Begegnung mit dem Wahnsinnigen: "Ich erblickte N. in einer Sofaecke kauernd und lesend (...) entsetzlich verfallen aussehend, er (erblickt) mich und stürzt sich auf mich zu, umarmt mich heftig, mich erkennend, und bricht in einen Thränenstrom aus, sinkt dann in die Zuckungen aufs Sofa zurück, ich bin auch vor Erschütterung nicht imstande, auf den Beinen zu bleiben. (...) D.h., es kam vor, daß er in lauten Gesängen und Rasereien am Klavier sich maassloos steigernd, Fetzen aus der Gedankenwelt, in der er zuletzt gelebt hat, hervorstiess, und dabei auch in kurzen mit einem unbeschreiblich gedämpften tone vorgebrachten Sätzen, sublime, wunderbar hellsichtige und unsäglich schauerliche Dinge über sich als den Nachfolger des toten Gottes vernehmen ließ (...) - (er) war ausserstande, selbst die Entzückungen seiner Fröhlichkeit anders als in den trivialsten Ausdrücken oder durch skurriles Tanzen und Springen wiederzugeben." Nachdem Overbeck die Briefe und die Manuskripte gesichert hat, bringt dieser treueste Freund Nietzsches den Kranken mit Hilfe eines Unbekannten, der sich spontan als Reisebegleiter anbietet, zum Turiner Bahnhof, wo sie am 9. Januar abreisen. Zu Dritt treten sie die Reise an - Nietzsche wird während der Fahrt das Gondellied, seine eigenen Verse aus 'Ecce homo' bald trillernd, bald summend singen. Das ist das Ende. Hier beginnt das lange dauernde und so traurige Siechthum Nietzsches. Nietzsche ist tot, auch wenn er noch mehr als zehn Jahre körperlich am Leben sein wird.
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