Nietzsches Glauben an das Fatum, ein wichtiges Thema seit seiner Schulzeit, mußte bestimmt Nahrung darin finden, daß die Professur in Basel eine ideale Gelegenheit bot, mit Richard Wagner näher bekannt zu werden. Neben der Professur durch den väterlichen Mentor Ritschl und dem philosophischen Initiationserlebnis durch Schopenhauer, hatte Nietzsche die flüchtige, aber durchaus freundliche Begegnung mit Richard Wagner und eine Einladung nach Tribschen aus Leipzig mitgebracht. Bei der Entscheidung für Basel hatte die räumliche Nähe zu Wagners Exilwohnort sicherlich eine nicht kleine Rolle gespielt. Der sechsundfünfzigjährige Wagner lebte mit seiner vierundzwanzig Jahre jüngeren Geliebten Cosima Wagner (geb. Liszt) nach den Turbulenzen um deren Trennung von ihrem ersten Mann, dem Dirigenten und Wagnerbewunderer (!) Hans von Bülow, in der Schweiz. Am 15. Mai 1869, zu Pfingsten, gleich an den ersten freien Universitätstagen, reist Nietzsche zu einem unangemeldeten Besuch nach Tribschen. Insgesamt wird Nietzsche bis 1872, als die Familie Wagner nach Bayreuth umzieht, dreiundzwanzigmal von Basel nach Tribschen aufbrechen. Nietzsche nennt diesen Ort seine 'Insel der Seligen'. Nietzsche bestimmen verschiedene Motive, in Tribschen selig zu sein. Einmal ist da natürlich die anfangs uneingeschränkte Bewunderung des Musikers Nietzsche für den Künstler Wagner - Nietzsche kannte dessen Werke seit seiner Jugend. Dazu kommt, daß Nietzsche in Wagner den großen Menschen mit der großen Aufgabe spürte, der er selbst zu werden oder den er zu unterstützen gedachte, um so dem Galeerendienst der Universitätspflichten zu entkommen. Nietzsche erwog tatsächlich, sich von der Universität beurlauben zu lassen, um die Bayreuther Pläne propagandistisch zu fördern. Drittes Motiv war Cosima Wagner, eine schöne kluge Frau, in die sich Nietzsche vermutlich verliebt hatte, und die dem gleichaltrigen Nietzsche stets das Gefühl gab, ein besonders wichtiger Gast der Familie zu sein. Zuletzt glaubte Nietzsche wohl, eine Freundschaft unter geistig Gleichrangigen zu erreichen. Trotz schon von Anfang an existierender emotionaler und schließlich auch geistiger Missverständnisse, die sich erst im Verlauf der nächsten Jahre offenbaren werden, wird besonders Nietzsche durch dieses Treffen dadurch profitieren, daß er zur schriftstellerischen Produktivität motiviert wird. So ist Nietzsches eigentlicher Erstling 'Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' (1871) einerseits gedanklich schon lange vorbereitet, aber erst in der Auseinandersetzung mit Wagners Musikauffassung findet Nietzsche den entscheidenden Schlüssel. Richard Wagner seinerseits sieht in Nietzsche vermutlich einzig den Bewunderer, dessen schriftstellerische und geistige Kräfte er in den Dienst der eigenen Sache stellen will. Wagner erkennt wohl intuitiv, daß er in Nietzsche einen genialen, begeisterungsfähigen Propagandisten besitzt. Die Enttäuschung beider entspringt also einer ursprünglichen Täuschung über die Rolle, die man für den anderen spielen soll. Neun Jahre dauert der persönliche Kontakt. Das letzte persönliche Treffen findet 1876 in Sorrent statt, in der ideologischen Auseinandersetzung über Nietzsches 'Menschliches/Allzumenschliches' und Wagners Oper 'Parsifal', endet 1878 das Verhältnis. Zwar schickt man sich die Werke noch zu, doch im Wissen, daß damit keine Versöhnung, sondern nur die endgültige Distanz zementiert wird. Nietzsche schreibt später im 'Ecce Homo' rückblickend: "Durch ein Wunder von Sinn im Zufall kam gleichzeitig (Nietzsche hatte eben sein Werk 'Menschliches/Allzumenschliches' an Wagner in zwei Exemplaren geschickt. Anmerk. des Autors) bei mir ein schönes Exemplar des Parsifal-Textes an, mit Wagners Widmung an mich "seinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Kirchenrath". - Diese Kreuzung der zwei Bücher - mir war's, als ob ich einen ominösen Ton dabei hörte. Klang es nicht, als ob sich Degen kreuzten? ... Jedenfalls empfanden wir es beide so: denn wir schwiegen beide. - Um diese Zeit erschienen die ersten Bayreuther Blätter: ich begriff, wozu es höchste Zeit gewesen war. - Unglaublich! Wagner war fromm geworden ..." Nietzsche nimmt in den Jahren vorher jedoch noch lebhaft teil am zunehmenden Erfolg Wagners beim Aufbau der Festspiele in Bayreuth, schreibt mit 'Richard Wagner in Bayreuth' (1876) die vierte 'Unzeitgemässe Betrachtung' und den 'Mahnruf an die Deutschen' (1873), einen flammenden Aufruf zur Unterstützung des Bayreuther Projekts. So besucht Nietzsche mehrmals Bayreuth und ist z.B. bei der Grundsteinlegung des Festspielhauses dabei. Ein wichtiges Datum der wachsenden Entfremdung ist eine lebhafte Auseinandersetzung über Brahms, die schon 1874 stattfindet. Nietzsche, der einen Klavierauszug des Triumphliedes von Brahms nach Bayreuth mitbringt und vor Wagner lobt, wird nach heftigem Wortwechsel des Hauses verwiesen. Die Umstände des letzten Besuchs 1876 führen dann für Nietzsche zum inneren Bruch mit Wagner, der letztlich schon stattgefunden hat. Anstatt Bayreuth zum Ausgangspunkt einer umfassenden geistigen Erneuerung werden zu lassen, was Nietzsches Motivation für alle Unterstützung war, ist Wagner zufrieden, daß der Festspieletat trägt. Wagner ist angekommen, Nietzsche vom Kniefall Wagners vor dem reichen, saturierten Publikum angewidert. Hinzu kommt, daß Nietzsche, der eben seine Betrachtung über Wagner veröffentlicht hat, sich im Betrieb der Proben nicht genügend von Richard Wagner beachtet fühlt. Als Nietzsche in Briefen an Cosima Wagner kurze Zeit später erwähnt, daß er seine Schopenhauer-Phase überwunden hat, kündigt er damit symbolisch die Grundlage der Freundschaft auf. In Leipzig 1868 war es doch genau die gemeinsame Liebe des Studenten Nietzsche und des Komponisten Wagner zu Schopenhauers Philosophie, die den Ausgangspunkt der Bekanntschaft markierte. Nietzsche muß gleichsam, um zum Philosophen des Zarathustra zu werden, Wagner und Schopenhauer überwinden. "Jeder Meister hat nur Einen Schüler und der gerade wird ihm untreu. Denn er ist auch zur Meisterschaft bestimmt.", dies wird Nietzsche 1883 in der Spruchsammlung 'Böse Weisheit - Sprüche und Sprichwörtliches - Pfeile' formulieren. In dem erwähnten Brief an Cosima schreibt Nietzsche am 19. Dezember 1876: "...werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in ´s Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer ´s Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen - damit ist denn das Leben wieder um einen grad schwieriger, die Last größer geworden! Wie wird man´s nur am Ende aushalten?" |