Ecce Homo

Der Aufstieg

Kindheit

Schulzeit

Studium

Professur

Der junge Professor

Richard Wagner

1870/71 - Sanitätsd...

Werde, der du bist

Freunde und Frauen

Abschied

Der Wanderer

Heimatlos

Lou

Zarathustra

Die Umwerthung

Finale

Der Untergang

Siechthum

Tod

 

Werde, der du bist

Nietzsche war Nietzsche 28jährignach Basel als Professor für Klassische Philologie berufen worden; in diesem Fach hatte er wissenschaftliche Ergebnisse vorzuweisen. Die akademische Berufung entsprach jedoch nicht der philosophischen und künstlerischen Berufung, die Nietzsche innerlich spürte. Die Briefe der ersten Jahre in Basel sind voller Klagen über die Diskrepanz zwischen Beruf und Neigung. Lieber wäre er ja mit dem Freund Erwin Rohde nach Paris gegangen, um dort Naturwissenschaften zu studieren. Dazu kam, daß er seit seinem Schopenhauererlebnis in Leipzig die Philologie nur noch als Instrument ansah, um philosophische Zusammenhänge besser verstehen zu können. Die Professur fiel Nietzsche ja gleichsam wie ein Geschenk zu, das er nicht ablehnen konnte. Insgesamt empfand er diese Gabe seines Mentors Ritschl vermutlich als Danaergeschenk. Durch die Bekanntschaft mit Richard Wagner, der stets seinen eigenständigen Weg gegangen war, wurde Nietzsche noch deutlicher bewußt, daß er trotz aller Anerkennung in einer persönlichen Sackgasse steckte. Frei atmen konnte Nietzsche nur in Tribschen, der 'Insel der Seligen' - die Philologenjacke war ihm längst zu klein, zur Zwangsjacke geworden.

Schon seit Leipzig forscht Nietzsche über Sokrates und die Tragödie und genereller über den Ursprung des tragischen Gedankens. Dabei mischt Nietzsche in seine Untersuchungen zusehends spekulative philosophische, intuitive Gedanken. Er spielte die Rolle als Professor und Lehrer am Pädagogium zwar pflichtbewusst weiter, innerlich identifiziert er sich vermutlich nie mit dieser akademischen Stellung, die einzig dazu taugt, den Lebensunterhalt zu sichern und Plattform für öffentlichwirksame Vorlesungen zu sein.

In diese Zeit der Neuorientierung fällt auch seine Gracian-Lektüre, über den er schreibt: "Gracian zeigt eine Weisheit und Klugheit in der Lebenserfahrung, damit sich jetzt nichts vergleichen läßt." Schon Schopenhauer, zu dieser Zeit das philosophische Leitbild, hatte den vornehmen spanischen Denker(1601-1658) als seinen Lieblingsautoren bezeichnet, schließlich sogar spanisch gelernt und das berühmte 'Hand-Orakel' übersetzt. Das Ineinander von Pessimismus, psychologischer Schärfe, Stilbewußtsein und Erhabenheit mußte naturgemäß Balthasar Gracian für Friedrich Nietzsche interessant machen. Viele Jahre später, 1884 schreibt er an seinen Freund Heinrich Köselitz über Gracian: "Über B (althasar) Grazian empfinde ich wie Sie: Europa hat nichts Feineres und Complicirteres (in der Moralisterei!) hervorgebracht. Gegen meinen 'Zarathustra' macht er immerhin den Eindruck von Rococo und sublimer Verschnörkelung (...)."

Einen Rettungsanker sieht Nietzsche 1871 darin, sich an seiner Universität Sokrates und die griechische Tragödiefür einen freigewordenen Lehrstuhl für Philosophie zu bewerben. Nietzsche fühlte sich also zu diesem Zeitpunkt kompetent genug, Philosophie zu lehren, ohne das Fach je studiert zu haben. Vermutlich hatten seine Lehrveranstaltungen zu diesem Zeitpunkt schon philosophisches Gepräge, so daß für Nietzsche selbst der Wechsel nur eine formelle Sache schien. Nietzsche wurde übrigens als Kandidat von der Universität niemals in Betracht gezogen. Ein weiteres Beispiel für Nietzsches wahre Interessen sind die fünf programmatische Vorträge 'Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten', die Nietzsche aus eigenem Antrieb im Winter 1872 für die Freiwillige Akademische Gesellschaft in der Aula des Museums in der Augustinergasse in Basel hält. Hier entwickelt Fr. Nietzsche ein elitäres, von humanistischen und musischen Elementen dominiertes Bildungsprogramm und übt sich in der Rolle des polemischen Modernitätskritikers. Insbesondere kritisiert Nietzsche das deutsche Bildungssystem. Nietzsche denkt in weltanschaulichen und Kategorien, indem er für den Bereich der Bildung die Antike gegen die Moderne ausspielt, ein Vorgehen, das für den aus der klassischen Philologie kommenden Nietzsche Methode hat.

Nachdem Nietzsches Bewerbung um den Philosophielehrstuhl fehlgeschlagen ist, erkrankt Nietzsche schwer. Mit seiner Schwester reist er im Frühjahr 1871 erstmals nach Italien, nach Lugano Geburt der Tragödiein den Tessin - im Gepäck ein Rohmanuskript, das Grundlage eines Werkes ist, welches Nietzsches eigentliche Autorenschaft begründen wird. Wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Erstlings 'Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' hat Richard Wagner, mit dem Nietzsche das Werk eingehend bespricht und zweifellos haben viele musikästhetische Gedanken Wagners und philosophische Gespräche mit ihm über Schopenhauer ihren Platz in Nietzsches Werk gefunden. So beginnt die Schrift mit einem Vorwort an Richard Wagner, der schließlich dafür sorgt, daß Nietzsches 'Geburt der Tragödie' bei E.W. Fritzsch in Leipzig verlegt wird, dort, wo auch seine eigenen Schriften erscheinen. Für Nietzsche ist es ein ergreifender Augenblick, als die ersten Exemplare Anfang 1872 bei ihm in Basel eintreffen. Sofort schickt er Freiexemplare an seine Freunde und Bekannte, darunter auch an seinen väterlichen Mentoren Ritschl in Leipzig. Ritschl reagiert ablehnend und versteht sofort, daß Nietzsche sich von der wissenschaftlichen Philologie verabschiedet hat. In einem Brief vom 2.Febr. 1872 an den Basler Erziehungsrat Vischer-Bilfinger (dem er noch drei Jahre zuvor Nietzsche von Herzen empfohlen hatte) schreibt Ritschl: "Das Ende vom Lied ist freilich, daß uns gegenseitig das Verständnis für einander fehlt; er ist mir zu schwindelhaft hoch ich ihm zu raupenhaft erdenkriechend. Am meisten ärgert mich seine Impietät gegen seine eigentliche Mutter, die ihn an ihren Brüsten gesäugt hat: die Philologie." In sein Tagebuch schreibt Ritschl kurz nach Erhalt des Freiexemplars mit der Bitte Nietzsches um einen Kommentar über die Geburt der Tragödie: "Fabelhafter Brief von Nietzsche (=Größenwahnsinn)." Später, anläßlich eines Besuchs Nietzsches bei Ritschl in Leipzig im Dezember 1873, kommt es schließlich auch zu offenen und prinzipiellen Streitigkeiten zwischen Prof. Ritschl und dem einstigen Meisterschüler Friedrich Nietzsche.

Bevor sich Nietzsche also wirklich in der akademische Wissenschaft einen Namen machen kann, endet gleichsam selbstverschuldet und mit einem Schlag seine Zukunft als akademischer Philologe. Natürlich wird die 'Geburt der Tragödie' Ulrich Wilamowitz-Moellendorffvon seinen Freunden und Bekannten gut aufgenommen - Wagner nennt es das Buch, das er sich ersehnt habe und der Freund Erwin Rohde schreibt im Mai 1872 eine sehr wohlwollende Besprechung, worin er sich verwundert über das Totschweigen des Buches durch die litterarische Kritik äußert. Doch mit einem Paukenschlag wird Nietzsches Erstling (und damit Nietzsches Reputation) durch eine polemische Rezension des jungen Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff mit dem ironischen Titel 'Zukunftsphilologie' erledigt. Nietzsche ist sich darüber klar, daß die Rezension gleichsam eine Auftragsarbeit ist, alte akademische Feindschaften zwischen Leipzig und Berlin darin ausgetragen werden. Er schreibt im Juni 1872 an Erwin Rohde über Wilamowitz-Moellendorff: "Er muß noch sehr unreif sein - offenbar hat man ihn benutzt, stimuliert, aufgehetzt - alles atmet Berlin." Doch weder ein offener Brief Wagners (der ja nun eher das Gegenteil von der gewünschten Wirkung erzielen mußte) noch Rohdes Replik auf Wilamowitz' Pamphlet mit dem provokanten und vieldeutigen Titel 'Afterphilologie' (eine Idee Overbecks) konnte den wissenschaftlichen Ruf Nietzsches retten. In einem Brief an Rohde vom 25. Oktober 1872 zitiert Nietzsche die stellvertretend für die meisten Kollegen stehende Aussage des Altphilologen Usener aus Bonn über die Geburt der Tragödie: "...es sei der baare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei: jemand, der so etwa geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt."

Nietzsche war die Reaktion möglicherweise gar nicht unlieb, denn war der Ruf erst ruiniert, so öffneten sich doch gleichzeitig auch Denkräume. Nietzsche war nicht etwa verunsichert, sondern hatte vielmehr genau durch die scharfe Ablehnung der akademischen Gelehrtenwelt zu seiner wahren Aufgabe zurückgefunden. Zwar kamen zu der ersten Vorlesung im neuen Semester nur zwei Studenten in seine Vorlesung über Rhetorik, aber Nietzsches Ehrgeiz zielte längst in eine andere Richtung. Übrigens kamen in den folgenden Jahren wieder eine durchschnittliche Zahl an Studenten zu seinen Vorlesungen. Tatsächlich plante Nietzsche aber zu dieser Zeit die Aufgabe der Professur zugunsten einer unabhängigen Existenz als schreibender Privatgelehrter (Schopenhauer als Vorbild); dem bewunderten Wagner bot Nietzsche uneigennützig sogar an, sich beurlauben zu lassen und als Redner für die Bayreuther Sache in Deutschland zu wirken.

In den Sommer Schule von Athen1872 fallen auch zwei erst aus dem Nachlaß veröffentlichte Manuskripte, die Nietzsche ganz als Philosophen zeigen. Besonders in der kleinen Abhandlung 'Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne' bündelt Nietzsche einige Themen, die sein Denken bestimmen werden - die Klärung des Verhältnisses von sinnlicher Wahrnehmung, Sprache und Wahrheit und die Folgen für unsere Moral. Daneben beschäftigt er sich nun intensiv mit einem seiner philosophischen Lieblingsthemen, den Vorsokratikern und schreibt eine ganze Geschichte dieser Epoche mit dem Titel 'Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen'. Das Heraklit-Kapitel dieses auch erst nach der Umnachtung veröffentlichten Buches offenbart viel von Nietzsches Selbstverständnis -von Nietzsches Philosophie- und letztlich auch Stilverständnis.

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Auch Nietzsches zweite Veröffentlichung, die polemische Kampfansage an David Friedrich Straußden deutschen Bildungsphilister, ist motiviert durch die Bekanntschaft mit Richard Wagner. Das Thema der Abrechnung mit der Kultur der Mittelmäßigkeit brannte Nietzsche schon lange auf den Nägeln, Richard Wagner stachelte Nietzsche gegen David Strauss auf, einen geachteten Theologen, mit dem Wagner noch eine persönliche Rechnung offen hatte. In der Person David Strauss, der keinesfalls im Mittelpunkt irgendwelcher aktueller Diskussionen stand, fand Nietzsche sein Opfer für einen giftigen Angriff, der nicht nur Nietzsches Bekannte, sondern am meisten David Strauss irritierte. Nietzsche veröffentlichte das erste Stück der 'Unzeitgemässe Betrachtung' mit dem vollen Titel 'David Strauß - Der Bekenner und der Schriftsteller' im August 1873. Insgesamt plant Nietzsche eine Reihe von zwölf 'Unzeitgemässen Betrachtungen' zu schreiben.

Es werden insgesamt vier Betrachtungen. Zwar plant er als zweite Betrachtung Erste Unzeitgemäße Betrachtungprogrammatisch über 'Die Philosophie in Bedrängnis', dann möchte er eine Abrechnung über den 'Einjährig Freiwilligen' als Prototyp des Bildungsphilister verfassen.

Schließlich erscheint schon ein halbes Jahr nach der ersten Betrachtung im Februar 1874 das zweite Stück mit dem Titel 'Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben', eine Abrechnung mit der übermäßigen Beschäftigung mit der Geschichte auf Kosten des Lebens. Was lehrt uns aber Geschichte? Nietzsche bündelt in diesem Essay Gedanken, die er besonders der Beschäftigung mit dem Basler Kunst- und Kulturgeschichtler Jacob Burckhardt verdankt, dessen Vorlesungen Nietzsche voller Respekt regelmäßig besucht. "Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren.", diese These aus Nietzsches Schrift hätte auch Burckhardt äußern können. Friedrich Nietzsche, wie auch Jacob Burckhardt und der Freund Franz Overbeck waren sich einig in ihrer Ablehnung eines teleologischen Geschichtskonstrukts, besonders natürlich eines Heilsplanes. Es finden sich viele philosophische Überlegungen, die Nietzsches spätere radikale Kritik am Christentum vorwegnehmen.

MitArthur Schopenhauer - Karrikatur der dritten 'Unzeitgemässe Betrachtung', die den Titel 'Schopenhauer als Erzieher' hat, trägt einerseits Nietzsche eine philosophische Dankesschuld ab, andererseits hängt auch diese Betrachtung mit seinem Verhältnis zu Richard Wagner zusammen. 'Schopenhauer als Erzieher' erscheint im Oktober 1874. Nietzsche geht es nicht um die Philosophie Schopenhauers, sondern er zeichnet seinen Idealtypus eines aufrechten genialen Denkers, der sich seiner überzeitlichen und individuellen Größe stets bewußt ist und Denken und Leben ohne Kompromiss als Einheit vorlebt - es ist klar, daß Nietzsche hier eigene Wünsche projeziert. Ich empfehle die Lektüre des Aufsatzes von Helmut Walther mit dem Titel:'Nietzsche als Erzieher'.

Die vierte und letzte 'Unzeitgemässe Betrachtung' über 'Richard Wagner in Bayreuth' erscheint erst im Juli 1876. Diese Huldigungsschrift steht am Ende der ersten Phase in Nietzsches philosophischer und stilistischer Entwicklung. Nietzsche hat zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits die beiden Orientierungspunkte Schopenhauer und Wagner überwunden und macht sich in ein neues Land auf; mit dem neugewonnenen Freund Paul Rée reist er in das Land des freien Geistes.


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